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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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ausruhten. David ging an mehreren Restaurants vorbei und suchte nach Arbeitern im Overall von Cathay Heavy Metal. Im Old Sichuan erkannte er an einem hinteren Tisch drei der Männer, mit denen er vorgestern Hotpot gegessen hatte.
    Begrüßte er sie ein wenig zu euphorisch? Ein wenig zu laut? Waren sie misstrauisch geworden, weil er schon wieder auftauchte und sich mit einer Selbstverständlichkeit zu ihnen setzte, als wären sie alte Bekannte? David hatte keine Ahnung, er spürte nur sofort, dass etwas geschehen war. Die ganze Gruppe war missmutig und schweigsam, seine Wiedersehensfreude teilten sie ganz und gar nicht, seine Anspielungen auf die eintönige und langweilige kantonesische Küche und den köstlich scharfen Hotpot ignorierten sie. Seine Aufdringlichkeit, sein unangemessen jovialer Ton wurden ihm selbst unangenehm. Er schwieg fortan, versuchte den Gesprächsfetzen, die er aufschnappte, einen Sinn zu geben.
    Die Männer waren zornig, weil einer ihrer Kollegen vor zwei Tagen verhaftet worden war, ohne dass sie den Grund erfahren hatten. Mindestens ebenso schlimm war die Tatsache, dass die Frau des Inhaftierten und ihr sechs Monate alter Sohn, mit denen er sich im Wohnheim der Fabrik ein Zimmer geteilt hatte, am nächsten Tag das Gelände verlassen mussten. Eine Freundin, die in einer nahen Textilfabrik arbeitete, hatte die Unglückliche heimlich aufgenommen, aber da würde sie nicht lange bleiben können. Niemand wusste, wohin mit ihr, zurück nach Sichuan wollte sie verständlicherweise nicht, solange ihr Mann in Haft war.
    David zögerte. Sollte er seine Hilfe anbieten? Würde er damit neues Misstrauen erregen, oder reichte die gemeinsame Herkunft aus derselben Provinz aus, mögliche Zweifel zu zerstreuen? Er erhob seine Stimme und erzählte etwas von einem Bekannten aus Chengdu, der in Shenzhen lebte, bei dem er die Frau und ihr Kind wahrscheinlich unterbringen könnte, natürlich würde er sie vorher gerne sehen. Die Gruppe schaute ihn erstaunt an. Einer der Cathay-Männer stand kurz darauf so plötzlich auf, als bestünde die Gefahr, David könnte es sich anders überlegen, und bedeutete David, ihm zu folgen.
    Sie überquerten die Hauptstraße, verschwanden in einer schmalen Gasse, die direkt auf den Hof einer kleinen Fabrik führte. Sie bestand aus einer flachen Halle mit weiß gekachelter Fassade, aus der David das monotone Surren von Nähmaschinen hörte. Dahinter lag ein lang gestrecktes Backsteingebäude, das Wohnheim der Arbeiter. Sie stiegen in den ersten Stock, bahnten sich ihren Weg an Putzeimern, Wäscheleinen voller Schlüpfer, Strümpfe, Hemden, Hosen und Röcke vorbei zu einem Zimmer am Ende des Ganges.
    Die Tür war halb geöffnet, sie traten ein, ohne anzuklopfen.
    In dem Raum war Platz für vier Doppelstockbetten, einen kleinen Tisch und acht rote Plastikhocker, die übereinandergestapelt in der Ecke standen. An den Wänden hingen mehrere Poster von chinesischen Popstars, das einzige Fenster war vergittert. Auf jedem Bett lag eine dünne Bastmatte, darauf ein großes Plüschtier und eine prall gefüllte Plastiktüte. Es war unerträglich heiß hier, David konnte niemanden sehen, aber er hörte Atemgeräusche hinter einem Vorhang, der die Sicht auf eines der unteren Betten versperrte.
    »Kein Angst, Liu, ich bin es«, sagte der Mann, der David hierhergeführt hatte, und schob den Stofffetzen zur Seite. Dahinter kauerte eine junge, zierliche Frau mit einem schlafenden Baby im Arm. »Hier ist jemand, der dir vielleicht helfen kann.«
    Die Frau bewegte sich nicht, sondern schaute David aus kleinen, schmalen Augen an. »Wer sind Sie«, fragte sie.
    »Mein Name ist Zhang Lin«, antwortete David.
    »Was wollen Sie?«
    »Ihnen helfen.«
    »Warum?«
    »Weil ich gehört habe, dass Sie Hilfe brauchen.« David wusste, dass die Frau vor ihm schon Buddhistin sein musste, um dieser Begründung Glauben zu schenken.
    »Sind Sie Polizist?«, fragte sie misstrauisch.
    Diese Frage hatte er befürchtet. Er wollte nicht lügen, aber mit der Wahrheit würde er sich und vermutlich auch sie in Gefahr bringen.
    »Ich komme aus Chengdu«, sagte er in einem Ton, der erklären sollte, dass jemand aus dieser Stadt doch unmöglich ein Polizist in Shenzhen sein konnte.
    Ein kurzes Lächeln flog über ihren Mund. »Ich auch.«
    »Ich habe gehört, Sie und Ihr Kind brauchen für ein paar Tage ein Bett.«
    Sofort kehrte die Angst in ihr Gesicht zurück. »Ja, und?«
    »Ich habe einen Freund, der kommt auch aus Chengdu, er

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