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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Gericht würde Tzu daraufhin verurteilen, und kein Richter würde fragen, wie das Urteil zustande gekommen war. Und wenn es stimmte, dass er von Lo und Yip im Keller festgehalten wurde, war seine Unterschrift nur eine Frage der Zeit.
    David ertrug die Enge seines Büros und die Stimmen der Kollegen nicht mehr. Er murmelte etwas von Knieschmerzen und einem Arzttermin und verließ das Präsidium durch den Hinterausgang über den Hof.
    Er wollte allein sein, nachdenken und dabei durch die Stadt streifen, blieb jedoch schon zwei Straßen weiter an einer Baustelle stehen. Sie hatte das Ausmaß zweier Fußballfelder, auf der einen Seite ragten bereits vier von außen fast fertige Hochhäuser in den Himmel, auf der anderen waren vier weitere im Rohbau. David kannte die Ecke gut, er erinnerte sich noch, wie vor einigen Jahren an dieser Stelle gebaut wurde, damals entstanden ein Dutzend achtstöckige Häuser, die im vergangenen Jahr wieder abgerissen wurden, um Platz zu schaffen für diese höheren, größeren, moderneren Wohntürme. Ihn faszinierten Baustellen, er liebte es zuzuschauen, wie etwas entstand, etwas wuchs, größer wurde, Formen annahm, sich vermehrte. Die Bauarbeiter sah er als eine Art Stellvertreter für die Millionen, die in den Fabriken im Verborgenen arbeiteten, die Schuhe, Hemden, Lampen, Spielsachen und was wusste er noch alles für den Rest der Welt herstellten, ohne dass sich jemals jemand für sie interessierte. Als würden all diese Waren von Geisterhand produziert.
    Baustellen waren für ihn wie ein Blick in das Herz dieser Stadt.
    Durch den Zaun beobachtete er die Arbeiter, sie waren tiefbraun gebrannt, trugen kurze Hosen und nichts an ihren Oberkörpern, weil es viel zu heiß für ein T-Shirt war, eigentlich viel zu heiß, um überhaupt etwas zu tun. In der prallen Sonne schleppten sie Eisenstangen, Holzlatten und Türen, mischten Beton, schaufelten Sand, schwitzten, quälten ihre jungen und doch schon so ausgelaugten Körper, verrichteten still und konzentriert ihre Arbeit mit einer Ernsthaftigkeit und Würde, die David rührte. Sie zogen von Baustelle zu Baustelle, schufteten sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr, bis sie irgendwann nicht mehr konnten und von einem Tag auf den anderen nach Hause geschickt wurden oder schlimmer noch, vor Erschöpfung vom Gerüst fielen oder in einem Moment der Unachtsamkeit von einem herabstürzenden Brett oder einer Stange erschlagen oder von einem Bagger überrollt wurden.
    Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre selbst einer von ihnen geworden. Bei der Aufnahmeprüfung für die Polizeiakademie hatte er lediglich die Mindestpunktzahl geschafft. Eine falsche Antwort mehr, ein weiterer Flüchtigkeitsfehler, ein kleiner Irrtum und er wäre auf dem Bau gelandet, zumindest war das sein Plan gewesen im Falle des Scheiterns. Dann säße er jetzt mit kaputten Knochen wieder in Sichuan, würde in Chengdu vielleicht am Straßenrand hocken und Fahrradschläuche flicken oder Lotterielose verkaufen, sofern er überhaupt noch am Leben wäre. David dachte an den jungen Kerl, den er einmal auf einer Baustelle hatte bergen müssen. Er war beim Errichten der Spiegelglasfassade unter zunächst mysteriösen Umständen aus dem einundreißigsten Stock gestürzt. Später erfuhr David, dass er sich anfänglich geweigert hatte, so weit oben zu arbeiten, da er nicht schwindelfrei war und unter Höhenangst litt, erst als man gedroht hatte, ihn nach Hause zu schicken, war er hinaufgefahren. Auf dem Bambusgerüst war er vermutlich in Panik geraten und hatte den Halt verloren.
    Seitdem schritt David Zhang an keinem der neuen Wolkenkratzer vorbei, ohne an ihn zu denken.
    Er sah die Arbeiter und wusste genau, was er zu tun hatte. Die Stimme in ihm war nicht zu überhören, selbst wenn er gewollt hätte. Er hatte sie, wie Paul, in seinem Leben oft genug ignoriert und teuer dafür bezahlt. Als hätten wir eine Wahl, dachte er, während er ein Taxi heranwinkte.
     
    David machte vorsichtig einen großen Bogen um das Cathay-Heavy-Metal-Gelände, weder Lo noch ein Kollege durften davon erfahren, was er jetzt vor hatte. Er dirigierte das Taxi in die Nähe des Old Sichuan und ließ sich ein paar Häuserblöcke weiter absetzen. Die Fabriken machten offensichtlich gerade Mittagspause, denn die Straßen waren voll junger Frauen und Männer, die kleine Besorgungen erledigten, vor Telefonläden Schlange standen, auf und ab schlenderten oder sich einfach im Schatten der Bäume

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