Das Flüstern der Schatten
anderen Gäste einer nach dem anderen verschwanden, der Koch die Flamme löschte und damit begann, Tische und Hocker zusammenzuklappen. Sie sahen, wie die Lichter in den hohen Häusern nach und nach erloschen, und von manchen der Türme waren in der Dunkelheit bald nur noch die gewaltigen Umrisse zu erkennen.
Paul erzählte ihr von Justin, von seinen ersten selbst gemachten Pfannkuchen, die auf dem Küchenboden gelandet waren, von den Tränen des ersten Schultages, von den durchwachten Nächten, wenn die Geisterträume einfach nicht enden wollten, und es war das erste Mal, dass ihm diese Erzählungen nicht unangenehm waren. In den vergangenen drei Jahren hatte er niemanden gehabt, mit dem er seine Erinnerungen teilen wollte, und wenn er früher einmal Christine gegenüber etwas angedeutet hatte, so hatte er es im Nachhinein schnell bereut. In seiner Phantasie waren die Erlebnisse mit Justin so lebendig, so gegenwärtig, als wären sie erst gestern geschehen, als könnte sein Sohn jeden Augenblick zur Tür hereinlaufen und einen neuen Pfannkuchen braten. Aber sobald Paul seine Erinnerungen in Worte kleidete, bekamen sie etwas Endgültiges, Vergangenes. Als stürbe Justin mit jedem Satz ein wenig mehr.
Heute aber hatte er nicht dieses Gefühl. Er wusste, die Geschichten waren bei ihr gut aufgehoben, in dieser windigen, feuchten Nacht hatten sie etwas Verbindendes.
Als sie wieder am Ausgang B 1 standen, war die letzte U-Bahn längst abgefahren. Unter einer Laterne wartete ein Taxi, das ihn nach Central bringen konnte.
»Willst du bei mir übernachten?«, fragte Christine.
Noch vor Kurzem hätte er die Frage als Zeichen mangelnder Sensibilität gedeutet. Jetzt dachte er an ihre Nacht im Mandarin Oriental Hotel und wurde sogleich unsicher. Er freute sich über die Einladung, aber welche Erwartungen hatte sie?
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Nur übernachten. Ohne Hintergedanken.«
Es verblüffte ihn immer wieder aufs Neue, wie gut sie seine Gedanken, seine Zweifel, Fragen oder Ängste erahnte.
»Und dein Sohn?«, fragte Paul.
»Der schläft, und wenn du morgen früh aufstehst, ist er längst auf dem Weg in die Schule. Außerdem habe ich ihm schon viel von dir erzählt.«
Sie fuhren in den zwölften Stock eines Hauses im Wo Ming Court, die oberen Stockwerke, erklärte Christine, waren zu teuer gewesen,.
Die ganze Wohnung war kaum größer als Pauls Ess- und Wohnzimmer zusammen. Gleich hinter der Eingangstür lag eine winzige Küche, es folgte ein Raum mit einem runden Tisch, vier Stühlen und einem Sofa. Gegenüber stand ein Regal mit DVD-Spieler und Stereoanlage, über dem ein großer, flacher Fernseher hing, davor waren ein Bügelbrett und ein Korb voller Wäsche.
Sie schritten durch einen kurzen, schmalen Flur, von dem das Bad, ein begehbarer Schrank und Joshs Zimmer abgingen und an dessen Ende Christines kleines Schlafzimmer lag. In der Mitte befand sich ein Doppelbett, das fast von einer Wand zur anderen reichte. Christine schloss die Tür hinter ihnen, breitete die Arme aus und flüsterte: »Fühl dich wie zu Hause.«
»Ich liebe deinen Humor«, flüsterte er zurück.
»Im Badezimmer haben wir nicht beide zur selben Zeit Platz«, sagte sie. »Soll ich vorgehen?«
»Gleich«, antwortete er leise, zog ihr vorsichtig das T-Shirt über den Kopf, kniete sich vor sie, zog ihr die Hose aus und küsste sie auf den Bauch. Sein Begehren wuchs mit jedem Atemzug, am liebsten hätte er sie jetzt aufs Bett gezogen, ihren ganzen Körper mit Küssen bedeckt und geliebt. Aber nicht hier, dachte er, nicht mit ihrem Sohn schlafend im Nebenzimmer. Morgen vielleicht. Morgen würden sie nach Lamma fahren. Er würde einkaufen und schon am Nachmittag ihre Lieblingssuppe kochen, Blumen und eine Flasche Champagner besorgen und das ganze Haus mit Kerzen ausleuchten.
»Kommst du mich morgen Abend auf Lamma besuchen?«, flüsterte er. »Bleibst du über Nacht?«
Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und blickte ihn an, und er sah in ihren Augen, dass sie genau wusste, was in ihm vorging.
»Wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegst.«
Paul blieb lange wach, Christine war in seinem Arm eingeschlafen, er schaute an die Decke, lauschte dem dumpfen Brummen der Klimaanlage und war viel zu aufgeregt, um Schlaf zu finden. Seit er auf Lamma lebte, war dies, nach jener Übernachtung im Hotel vor einigen Tagen, erst die zweite Nacht, die er nicht in seinem Bett verbrachte. Er sehnte sich nach der Vertrautheit seines Hauses,
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