Das Flüstern der Schatten
morgen oder übermorgen, sondern jetzt, sofort, hatten ihn überrascht und beunruhigt. Bedeutete sie ihm mehr, als er sich eingestehen mochte? Oder waren es der tote Michael Owen und die Bilder und der Brief, die er in dessen Computer gefunden hatte, die ihn so sehr aufgewühlt hatten, dass er es plötzlich nicht mehr allein aushielt?
War seine Sehnsucht nach ihr ein Verrat an seinem Sohn? Wohin sollte er mit all den neuen Eindrücken und Erlebnissen? Offenbar perlten sie nicht von ihm ab wie das Wasser von dem Fensterglas vor ihm, sie hinterließen Spuren und weckten Sehnsüchte. Konnte er verhindern, dass sie sich auf die Erinnerungen an Justin legten und diese allmählich verblassen ließen?
Er dachte an den dunklen Flur, an den Türrahmen mit den Strichen, die Gummistiefel und die Regenjacke und wäre am liebsten sofort umgekehrt. Er verspürte ein schlechtes Gewissen, als hätte er seinen Sohn im Haus entgegen allen Absprachen für eine Nacht allein zurückgelassen. Er würde nur einen Mangopudding mit Christine essen, er würde sie sehen und sich beruhigen, und wenn er sich beeilte, konnte er bequem eine der letzten Fähren zurück nach Lamma nehmen.
Die Fahrt nach Hang Hau dauerte viel länger, als Paul erwartet hatte, und je länger die U-Bahn unterwegs war, desto mehr begriff er, worauf er sich eingelassen hatte. Ausgerechnet Hang Hau. Er, der auf Lamma schon um eine Gruppe von fünf oder sechs Wanderern einen weiten Bogen machte, weil sie für ihn eine unzumutbare Menschenansammlung bedeutete, hatte sich freiwillig auf den Weg in eine Satellitenstadt mit mehreren hunderttausend Einwohnern begeben.
Er sollte in Hang Hau aussteigen und zum Ausgang B 1 gehen, dort würde sie ihn abholen, hatte Christine versprochen. Am Telefon hatte es ganz einfach geklungen. Jetzt stand Paul verloren auf dem Bahnsteig und blickte ratlos auf die vielen Hinweistafeln. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal mit der Hongkonger U-Bahn unterwegs zu sein. Nach links ging es zum Chung Ming Court. Hau Tak Estate. On Ning Garden. Ausgang A 1. A2. Nach rechts zum Wo Ming Court. Yuk Ming Court. La Cite Noble. Ausgang B2. B1.
Paul fuhr die endlos lange Treppe hinauf, passierte die Drehschranke in der Hoffnung, im nächsten Augenblick die wartende Christine zu sehen. Stattdessen schaute er in die Gesichter fremder Wartender, deren Blicke an ihm vorbeistrichen. Sie musterten andere Neuankömmlinge, und eine Miene nach der anderen hellte sich auf, sobald die Augen den Freund oder Verwandten entdeckt hatten. Am Bankautomaten gegenüber bildete sich eine kleine Schlange, vor einem Kiosk standen ein paar Jugendliche in Basketballtrikots, spielten mit einem Ball und kauften sich etwas zu trinken. Christine konnte er nirgendwo entdecken.
Paul schritt zögernd zum Ausgang. Es hatte zu regnen aufgehört, und er trat auf den Vorplatz, wo er abrupt stehen blieb, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Direkt vor ihm streckten sich ein Hochhaus neben dem anderen in den Nachthimmel. Er blickte nach links und nach rechts, überall dasselbe Bild. Obgleich er seit über dreißig Jahren in Hongkong lebte, hatte er eine solche Dichte von Wolkenkratzern noch nicht gesehen. Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte die Stockwerke zu zählen, irgendwo zwischen dem fünfundzwanzigsten und dreißigsten geriet er durcheinander und gab auf. Es mussten fünfzig, vielleicht sechzig sein.
Er drehte sich um und sah Christine mit leichten, schnellen Schritten auf ihn zukommen. Sie lächelte schon von Weitem, und er wusste sofort, dass sein Kommen kein Fehler gewesen war. Nichts auf der Welt beruhigte ihn im Augenblick so sehr wie dieses Lächeln. Er hatte das Gefühl, sie noch nie so schön gesehen zu haben, obgleich sie nichts als ein unscheinbares weißes T-Shirt und eine leichte, geblümte Hose trug, die bei jeder Bewegung heftig um ihre Beine flatterte. Noch bevor sie etwas sagen konnte, nahm er sie in den Arm, fühlte ihren schlanken, muskulösen Körper, ihre weiche Brust, strich ihre Haare zur Seite und küsste sie vorsichtig auf den Hals.
»Was für eine Begrüßung«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und er spürte, wie sich ihr Körper in seinen Armen entspannte. Für ein paar lange Sekunden hielten sie sich fest und sagten nichts. »Entschuldige, dass du warten musstest. Josh hat mir natürlich erst wieder im letzten Moment vor dem Schlafengehen seine Hausaufgaben gezeigt.«
»Kein Problem.«
»Was wollen wir machen? Worauf hast du
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