Das Flüstern der Schatten
gleichzeitig genoss er Christines warmen, weichen Körper neben sich, ihre zarte Haut, ihren betörend schönen Duft, ihren Atem an seiner Schulter, und das war das eigentliche Wunder dieser Nacht.
Er verspürte einen heftigen Durst, schob vorsichtig Christines Kopf auf ihr Kissen und stand auf.
Er schlich durch den Flur ins Wohnzimmer und blieb dort für einen Moment stehen. Die Einrichtung erinnerte ihn an all die anderen Wohnzimmer von Hongkonger Bekannten, in denen er früher gesessen hatte. Diese standardisierten Hochhausappartements schien es nur mit der immer gleichen Einrichtung zu geben. Im Regal standen keine Bücher, sondern Schwarz-Weiß-Fotos irgendwelcher Ahnen, daneben ein Strauß bunter Plastikblumen und die Skulptur einer goldglänzenden Katze, die fortwährend mit der linken Vordertatze winkte - sie war ein Symbol für Glück und Wohlstand. Darunter lagen mehrere Stapel DVDs. Über dem schwarzen Kunstledersofa hing ein gerahmtes Poster an der Wand, vermutlich das Geschenk einer Fluglinie oder eines Fremdenverkehrsamtes: eine europäische Alpenlandschaft mit See, Schnee und blauem Himmel.
Paul dachte an ihr winziges, schlecht belüftetes, lautes und heillos überfülltes Büro, in dem sie lang und hart arbeiten musste, um sich und ihrem Sohn diese kleine Wohnung zu ermöglichen. Was für eine starke Frau sie war. Wie stolz sie darauf sein konnte. Wie sehr er sie dafür respektierte.
In der Küche lagen neben der Spüle ordentlich nebeneinander eine rote Plastikdose mit dem Zeichen eines englischen Fußballvereins auf dem Deckel und eine Trinkflasche mit dem gleichen Logo. Jemand hatte am Abend zuvor Josh’ Pausensnack für die Schule vorbereitet. Der Anblick traf ihn so unvorbereitet und so schmerzhaft, dass er sich auf die Lippen beißen musste, um nicht loszuschreien. Er biss so lange zu, bis ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen und das Blut auf den Tresen tropfte.
Christine war stark, aber würde ihre Kraft für ihn reichen? War er nicht für jeden liebenden Menschen eine Zumutung? Er ging zurück ins Schlafzimmer, überlegte kurz, ob er sich anziehen und hinausschleichen sollte, aus der Wohnung, aus ihrem Leben, aber dafür fehlte ihm die Kraft. Stattdessen legte er sich wieder ins Bett, schmiegte sich an sie und schlief innerhalb weniger Sekunden zu Tode erschöpft ein.
Die Stimmen des Morgens weckten ihn. Josh schien etwas zu suchen und fluchte leise vor sich hin, das philippinische Hausmädchen wusste auch nicht, wo die vermisste Federmappe war, und klagte über seine Unordnung. Christine mahnte ihren Sohn fortwährend zur Ruhe und zur Eile, sie waren offenbar spät dran. Es roch nach frischem Kaffee und Gebackenem. Nach einer Weile entfernten sich die Stimmen, und Paul hörte eine Tür ins Schloss fallen. Kurz darauf kam Christine mit einem Tablett in den Händen zurück ins Schlafzimmer.
»Haben wir dich geweckt?«
»Nein, ich war schon wach«, log er. »Was hast du denn da?«
Sie stellte das Tablett aufs Bett, darauf standen zwei Becher Kaffee, Milch, Zucker und zwei Croissants.
»Da staunst du, oder?«, fragte sie, und der Stolz in ihrer Stimme rührte ihn. »Josh isst die so gern, sie sind mit Schokolade gefüllt. Ich hatte noch zwei im Tiefkühler. Echte französische Croissants!«
»Ich bin aber kein Franzose«, sagte er und ärgerte sich sofort über seine schroffe Bemerkung. Er hasste Croissants, aber deswegen wollte er ihr die Freude nicht nehmen.
»Josh auch nicht. Oder magst du sie nicht?«
»Doch, doch, wunderbar«, antwortete er und richtete sich auf.
Jetzt erst sah sie seine Verletzung.
»Paul, was hast du denn mit deiner Lippe gemacht?«
»Nichts. Schlecht geträumt und mir im Schlaf wohl draufgebissen. Habe nichts gemerkt.«
Sie schaute ihn prüfend an, als versuchte sie zu ermessen, welche Art Traum so entsetzlich sein konnte, dass sich ein Mensch eine solche Verletzung zufügte.
Sie fuhren zusammen in die Stadt. Paul brachte sie ins Büro, und Christine versprach, am Abend nach Lamma zu kommen. Vor der Tür küsste er sie so leidenschaftlich, dass sie beide nicht wussten, wie sie diesen Tag allein überstehen sollten.
Er nahm in Wan Chai die Straßenbahn bis zur Queens Road, kaufte in der IFC Mall Blumen, Kerzen, eine Flasche Champagner und die Zutaten für die Suppe und stieg auf die 12-Uhr-20-Fähre nach Yung Shue Wan. Das Hydrometer am Pier zeigte 96 Prozent Luftfeuchtigkeit, es war einer dieser feucht-heißen Tage, an denen es gar nicht
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