Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
Vom Netzwerk:
richtig hell zu werden schien. Die aschgrauen Wolken lagen wie ein riesiger Deckel über dem Hafen. Das Wasser war noch immer unruhig, aber der Wind war ein wenig flau, Paul hoffte, dass der Taifun sich entweder abgeschwächt oder überraschend eine andere Richtung eingeschlagen hatte.
    In Yung Shue Wan setzte er sich in die Green Cottage am Hafen, bestellte, wie immer, wenn er hier Pause machte, einen frisch gepressten Apfel-Karottensaft mit etwas Ingwer und versuchte sich den Abend vorzustellen. Wird das Haus groß genug sein für drei? Würde Christine es ihm ein weiteres Mal verzeihen, wenn ihn die Kraft verließe? Hatte er »alle Zeit dieser Welt«, wie sie ihm einmal versprochen hatte? Er war aufgeregt, unruhig, aber verspürte keine Angst.
    Er kaufte noch etwas frischen Tofu, Mangos und Wasser im Dorf und stieg mit zwei schweren Tüten bepackt den Hügel nach Tai Ping hinauf.
    Der Sturm hatte heftig in seinem Garten und auf der Terrasse gewütet, überall lagen Blätter, kleine Äste, Frangipani-Rosen, Geranien und Bougainvilleablüten herum. In der Küche hatte der Wind Wasser durch den alten Holzfensterrahmen gedrückt, die Lache erstreckte sich über den ganzen Tresen, mittendrin lag das Mobiltelefon. Es hatte keinen Schaden genommen, zeigte zwölf Anrufe während seiner Abwesenheit und eine ihm unbekannte Nummer. Wer mochte so oft versucht haben, ihn zu erreichen? Die Owens? David? Er wollte seinen Freund anrufen, aber erst musste er die Küche wischen. Er stellte noch eben die Blumen in die Vase und den Champagner kalt, steckte die Kerzen in alle Halter, die er finden konnte, und verteilte sie im ganzen Haus, ging nach oben, machte das Bad sauber, bezog sein Bett neu, wischte in seinem und Justins Zimmer Staub, putzte im Wohnzimmer, fegte die Terrasse und hatte David völlig vergessen, bis er Schritte und eine wohl vertraute Stimme vom Weg her hörte.
    »David? Um Himmels willen, was ist passiert?«
    Sein Freund sah bemitleidenswert aus. Er zog das linke Bein etwas nach und ging steif und schleppend, als hätte er sich mit letzter Kraft den Hügel hochgequält. Den leicht abwesenden Ausdruck in seinen Augen kannte Paul nur zu gut aus den Phasen, in denen David unter seinen heftigen Kopf- und Gliederschmerzen litt. »Komm rein. Soll ich dir einen Tee machen? Hast du schon gegessen?«
    »Ein Tee wäre gut, danke.«
    Sie gingen ins Haus, David legte sich aufs Sofa, Paul kochte Tee und setzte sich zu ihm.
    »Erzähl, was ist los?«
    »Ich fürchte, ich habe ein Problem.«
    »Michael Owen?«
    David nickte. »Ich konnte es nicht lassen. Heute Morgen bin ich noch einmal zur Cathay-Heavy-Metal-Fabrik gefahren und habe dort mit ein paar Arbeitern geredet. Sie waren ziemlich aufgebracht wegen Tzus Verhaftung und wussten nicht, was ihm vorgeworfen wird. Einer von ihnen hat mich dann zu Tzus Frau und seinem Kind gebracht.«
    Er machte eine Pause, schlürfte einen Schluck von seinem heißen Tee und blickte seinem Freund direkt in die Augen. »Paul, der Mann hat ein Alibi. Dieser Tzu war krank. Er lag die vergangene Woche im Bett. Seine Frau und sein Kind waren die ganze Zeit bei ihm.«
    »Sicher?«
    »Ja. Seine Frau hat es mir ganz arglos, ohne zu wissen, warum ihr Mann verhaftet wurde, gesagt. Ich habe nicht den geringsten Zweifel.«
    Paul atmete tief durch, schaute auf seinen hellgrün schimmernden Tee, schaute zu David, schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Er hatte das Gefühl, jemand schüttele ihn so heftig, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.
    »Was bedeutet das?«, fragte er nach einer langen Pause mit so leiser Stimme, dass David ihn kaum verstand.
    »Das bedeutet, dass der Mörder noch frei herumläuft.«
    »Und was noch?«
    »Dass ein Unschuldiger zum Tode verurteilt und hingerichtet wird; dass eine Frau ihren Mann verliert. Ein Kind seinen Vater.«
    Paul ahnte, dass das noch nicht alles war, dass es auch bedeuten könnte, dass er nicht länger so tun konnte, als ginge ihn die Geschichte nichts an. Er schwieg, trank einen Schluck Tee, dann fragte er:
    »Was willst du machen?« Warum hatte er »du« und nicht »wir« gesagt? War es ihm unbewusst herausgerutscht, oder hatte er es so gemeint? Suchte er die Distanz zu David, seinem besten, seinem einzigen Freund? Würde der ihm das je verzeihen?
    »Ich kann im Moment noch nicht viel machen. Ich brauche deine Hilfe. Es tut mir leid, dass ich überhaupt danach frage, du hast gesagt, du willst mit dem Fall...«
    »Was könnte ich

Weitere Kostenlose Bücher