Das Flüstern der Schatten
eine Festplatte und was weiß ich noch alles aus der Wohnung eines Fremden mitgenommen!«
»Ein Kommissar hat mich darum gebeten.«
»Das spielt überhaupt keine Rolle. Das war Diebstahl.«
»Eine Leihgabe. Ich werde sie seinen Eltern zurückgeben, keine Sorge.«
»Dann hast du zumindest mögliches Beweismaterial entwendet«, erwiderte Christine. »Ich glaube nicht, dass die Hongkonger Polizei dafür viel Verständnis hat.«
»Sie wird nichts davon erfahren.«
»Paul, hör mit den Ausreden auf.«
Sie schwiegen eine Weile und fütterten sich gegenseitig löffelweise mit den Nachspeisen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatten.
»Okay«, sagte Christine, als beide Teller fast leer waren.
»Was hast du auf der Festplatte gefunden?«
»Willst du es wirklich wissen?«
»Sonst würde ich nicht fragen.«
»Die meisten Ordner und Dokumente waren gesichert, aber was ich öffnen konnte, war schon merkwürdig.« Er beugte sich zu ihr und fügte flüsternd hinzu: »Michael Owen hatte offensichtlich eine Freundin in Shenzhen.«
Christine schaute ihn an, als wollte er sich über sie lustig machen, dann merkte sie, dass er es ernst meinte, und lachte so laut auf, dass sich die Gäste am Nebentisch neugierig zu ihnen umdrehten. »Das überrascht mich jetzt nicht sonderlich. Da kenne ich in Hongkong noch den einen oder anderen. Meinen Ex-Mann zum Beispiel.«
»Aber seine Familie wusste nichts davon.«
»Das ist in der Tat höchst ungewöhnlich. Wenn ihn das nicht verdächtig macht...« Sie verschluckte sich jetzt fast, und er musste jetzt selbst über seine unbeholfene Ausdrucksweise lachen.
»Er war mit ihr in Shanghai auf einer Baustelle...«
»Auf einer Baustelle? Ausgerechnet in Shanghai? Ich dachte, die gibt es da gar nicht?«
»Christine, hör auf«, bat Paul halbherzig. Sie schien sich bestens über seine Bemühungen als Hilfskommissar zu amüsieren.
Vielleicht hatte sie Recht, und er überschätzte die Bedeutung der geöffneten Dateien wirklich.
Das einzig wirklich ungewöhnliche Dokument, das er gesehen hatte, war ein Brief aus der vergangenen Woche an Victor Tang.
»Außerdem habe ich noch ein Schreiben an seinen Geschäftspartner gefunden. Darin droht Michael Owen ihm mit einem Anwalt, und es liest sich so, als hätte Tang irgendwie versucht, ihn einzuschüchtern.«
»Ist das alles?«, fragte sie.
»Ja, aber der Brief deutet auf einen ziemlich heftigen Streit zwischen den beiden hin.«
»Na und? Auch Geschäftspartner streiten mal, ohne sich gleich umzubringen. Du solltest gelegentlich einen Blick auf meine geschäftliche Korrespondenz werfen. Wenn es danach ginge, müsste ich schon lange im Gefängnis sitzen.« Sie nahm den letzten Löffel Mangopudding, ließ ihn vor Pauls Gesicht kreisen und steckte ihn sich dann selbst in den Mund. »Also, das klingt alles noch nicht sonderlich verdächtig, Herr Kommissar.«
»Vielleicht nicht verdächtig, aber es ist ein Ansatz, herauszufinden, was Michael Owen in China noch alles gemacht hat.«
»Warum willst du das wissen, wenn es für den Mord schon ein Geständnis gibt?«
Er holte tief Luft, um zu einer Erklärung anzusetzen, um ihr noch einmal ausführlich von Davids Zweifeln zu erzählen, stattdessen atmete er aus, ohne ein Wort zu sagen. Wenn er ganz ehrlich war hatte er darauf keine Antwort.
»Paul, ich habe dich sehr gebeten, in dieser Sache nicht mehr nach China zu reisen«, sagte sie ernst, aber ruhig. »Du weißt, warum. Du kennst meine Angst.«
Sie schob die Teller beiseite, nahm seine Hände und schaute ihm direkt in die Augen. »Sie ist die Folge von Dingen, die ich erlebt habe, unter denen meine Familie bis heute leidet und die ich nicht vergessen kann und auch nicht vergessen will. Niemals. Ich hätte das Gefühl, meinen Vater und meinen Bruder zu verraten, mich auf die Seite ihrer Mörder zu schlagen. Sie wollen, dass wir vergessen, aber das werde ich nicht. Verstehst du das?«
Natürlich verstand er sie. Jedes Wort. Vergessen war Verrat. Vergessen war ein Verwandter des Todes. Bis zur Sonne und wieder zurück.
»Du hast ein Versprechen abgegeben. Gilt das noch?«
»Ja, natürlich«, sagte er, löffelte das letzte Reisbällchen aus der Schale, teilte es mit den Zähnen und gab ihr die andere Hälfte, die mit einem schlürfenden Geräusch in ihrem Mund verschwand.
Der Wind hatte nachgelassen, als wolle der Taifun seine Kräfte sammeln für den großen Angriff morgen oder übermorgen. Sie saßen noch so lange unter der Plane, bis die
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