Das Flüstern der Schatten
Ton.« Diese Zärtlichkeit in ihrer Stimme. Die wollte er jetzt nicht hören.
»Christine, es tut mir...«
»Ist es wegen heute Abend?«
»Ja«, antwortete er scharf.
»Hast du es dir anders überlegt?«
»Nein. Aber David ist aus Shenzhen gekommen. Er braucht meine Hilfe. Er hat die Frau und das Kind des vermeintlichen Täters gefunden. Der Mann hat ein Alibi. Ich muss etwas für ihn herausfinden und bin deshalb auf dem Weg nach China.«
Schluss. Aus. Keine Widerrede. Paul hörte seine eigene Stimme, er war überrascht und erschrocken, wie kühl sie klang, wie viel Härte darin lag. Er entschuldigte sich nicht, wollte kein Verständnis, bat nicht um Verzeihung, weil er das Versprechen brach. Er teilte mit. Das tat ihm leid, aber es ging nicht anders. Für ein Gespräch, für Fragen oder Zweifel an seiner Mission fehlte ihm die Kraft. Sollte sie ihn beschimpfen oder gar ausfallend werden, würde er sofort auflegen.
Christine schwieg für einige endlose Sekunden. Würde sie ihn gleich anbrüllen? Ihm Vorwürfe machen? Weinen?
»Wo bist du jetzt?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.
»Auf der Fähre nach Hongkong.«
»Wann kommst du an?«
»In knapp fünfundzwanzig Minuten.«
»Ich erwarte dich am Anleger in Central«, sagte sie und legte auf.
XVIII
Ihre erste Reaktion war eine unheilvolle Mischung aus Angst und Wut. Wie konnte er ihr das antun? Wieso war ihm dieser David wichtiger als sie? Galt ihm sein Versprechen denn gar nichts? Es waren doch nur wenige Stunden vergangen, seit er sie gefragt hatte, ob sie bei ihm schlafen wollte.
Bleibst du über Nacht?
Wie lange hatte sie auf diese Worte, diese Bitte gewartet. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, was sie tun würde, wenn er sie ausspräche. Von seinem Körper geträumt, von seinem Bett im Haus auf Lamma, wie sie unter dem weißen Moskitonetz liegen, sie ihn spüren würde, seine Kraft, seine Begierde, wie sie eins würden.
Er konnte zärtlicher sein als jeder Mann, der sie bisher berührt hatte. Wenn er sie küsste, bekam sie Herzklopfen und weiche Knie. Wie ein Teenager verspürte sie eine Lust, der sie sich sofort hingeben würde, wenn er es nur zulassen könnte. Jeden ihrer Versuche, ihn zu verführen, wehrte er ab, sie waren zaghaft und schüchtern und verschreckten ihn trotzdem, ließen ihn sich zurückziehen, schafften Distanz statt Nähe. Mal nahm er zärtlich ihre Hände von seiner Brust oder aus seinem Nacken, mal stieß er sie fort wie ein Ringer, der sich aus einem Klammergriff befreit. Mehrmals kam sie so erregt von ihm zurück, konnte sich selbst während der Fährfahrt nicht beruhigen, dass ihr nichts blieb, als sich selbst zu befriedigen, zu Hause, allein im Bett, mit Josh und Tita im Nebenzimmer schlafend, was ihr unangenehm war und sie wütend machte auf ihn, weil er sich weigerte, ihren Hunger zu stillen. Sie war bedürftig und wie jeder bedürftige Mensch sehr verwundbar. Nun hatte er sie endlich gebeten, bei ihm zu bleiben, und sie hatte den ganzen Vormittag im Büro an nichts anderes denken können, und jetzt sollte schon wieder alles vorbei sein? Wusste er denn nicht, wie viel er ihr bedeutete?
Seine Stimme. Sie hasste es, wenn sie so kühl und hart klang. Er entschuldigte sich nicht einmal.
Als sie aufgelegt hatte, saß sie lange regungslos auf ihrem Stuhl. Stille Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und sie hatte für einen Moment das Gefühl, sich wieder in ein fünfjähriges Kind zu verwandeln, das von allen verlassen wird. Sie war klein und wehrlos, ihr Leben glitt ihr durch die Hände, sie würde alles verlieren. Ihren Sohn. Ihre Wohnung. Ihre kleine Firma. Paul.
Nein, hörte sie sich dann sagen, nein, das wirst du nicht. Klein und wehrlos warst du damals, aber heute ist heute. Du bist eine erwachsene Frau von über vierzig Jahren. Du bist kein Opfer, du bist stark. Stark. Stark. Du kannst dich entscheiden.
Niemand zwang sie, mit Paul zusammen zu sein. Sie konnte sich von ihm trennen, sie konnte jetzt zur Fähre fahren und ihm sagen, dass er sie verletzt und ihr Vertrauen missbraucht habe und sie ihn nie wiedersehen möchte. Einen kurzen Augenblick verspürte sie eine seltsame Erleichterung bei diesem Gedanken. Wie ein Mensch, der lange auf eine schlechte Nachricht wartet und ihr Eintreffen wie eine Befreiung empfindet. Aber wollte sie wirklich ohne Paul sein? Nein. Sie liebte ihn, und ihn zu verlassen, weil sie ihre Angst um ihn nicht ertrug, würde ihr nicht weiterhelfen. Nicht zu lieben aus Furcht vor den
Weitere Kostenlose Bücher