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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Schmerzen, die jede Liebe mit sich bringen kann, hieße, nicht leben zu wollen aus Angst vor dem Tod. Beides gehörte zusammen. Nur Kinder glaubten, der Mond hätte keine erdabgewandte Seite.
    Hatte sie ein Recht, auf Paul wütend zu sein? Er hatte etwas von einem Unschuldigen und einem Alibi gesagt, aber das interessierte sie überhaupt nicht. Konnte sie von ihm mehr Verständnis für ihre Furcht vor den Chinesen aus der Volksrepublik erwarten, oder war das zu viel verlangt? Was ist eine angemessene Zeit, um sich von Ängsten zu befreien? Fünf Jahre? Zehn? Zwanzig? Wie lange, fragte sie sich, ist Angst eine natürliche Schutzreaktion? Wann wird sie zu einer psychischen Störung? Am schlimmsten fand sie den Gedanken, dass die Männer in ihren Uniformen, die ihren Vater aus dem Fenster getrieben hatten, noch heute Macht über ihr Leben besaßen.
    Christine schaute auf die Uhr, in weniger als fünfzehn Minuten würde Paul in Central ankommen, sie musste sich beeilen, griff ihre Handtasche, sagte, dass sie nicht wisse, wann sie wieder zurück sei, und eilte aus dem Büro.
    Um diese Uhrzeit ein Taxi in der Johnson Road aufzutreiben, war fast unmöglich. Sie hastete in ihren hochhackigen Schuhen über den Markt in der Tai Yuen Street, stieß dabei einen Karton mit Kinderkleidern um, hörte den Verkäufer hinter sich pöbeln, rempelte mehrere fluchende Passanten an und schnappte auf der Queens Road East einer Frau mit zwei Kindern ein Taxi vor der Nase weg. Sie war nicht allzu abergläubisch, aber jetzt fürchtete sie, für diese Anhäufung von Flegeleien büßen zu müssen. Die Strafe folgte in Form eines Staus nach einem Unfall auf der Man Yiu Street, keine dreihundert Meter vom Fähranleger entfernt. Sie war bereits mehr als fünf Minuten zu spät, zahlte, stieg aus, nahm ihre Schuhe in die Hand und rannte barfuß auf der Straße zwischen den stehenden Autos Richtung Pier.
    Paul sah sie schon von Weitem und kam ihr entgegen. Statt etwas zu sagen, nahmen sie sich in den Arm. Sie spürte, wie er den Atem anhielt, sein Körper sich kurz versteifte, als erwarte er beim nächsten Atemzug eine verbale Attacke. Aber sie schwieg und ließ ihn nicht los, hielt ihn fest, bis er sich allmählich entspannte, wieder gleichmäßig atmete, seine Muskeln weicher wurden.
    »Hast du Zeit, die Star-Ferry zu nehmen?«, fragte sie.
    »Die Star-Ferry?« Er schaute sie völlig überrascht an.
    »Ja, warum nicht.«
    Er nickte, und sie gingen an dem Pier vorbei, wo die Schiffe nach Cheung Chau und Peng Chau ablegten, passierten den Taxistand und den Busbahnhof, bogen hinter dem Hauptpostamt links auf den Connaught Place ab und erreichten nach wenigen Minuten das alte, grün-weiße Terminal, von dem die Boote nach Tsim Sha Tsui abfuhren. Früher hatte sie die Fähre sehr häufig genommen, selbst nach der Eröffnung der viel schnelleren U-Bahn, die unter dem Hafen hindurchführt und die für die Strecke von Central aus keine fünf Minuten benötigt, war sie zunächst lieber mit der Fähre gefahren. Später hatte sie das Schiff immer seltener und mehr aus nostalgischen Gründen benutzt und nun schon seit Jahren gar nicht mehr. Die Fähre ist ein Relikt aus einer anderen Welt, dachte Christine, als das Boot sich behäbig dem Kai näherte. Allein das Ein- und Aussteigen nahm mehr Zeit in Anspruch als die gesamte Fahrt mit der MTR. Sie war so langsam, so ineffizient und unbequem, dass ihre Benutzung an einen Akt des Widerstandes gegen die Gesetze, gegen die Logik dieser Stadt grenzte. Warum wollte sie ausgerechnet jetzt mit der Star-Ferry fahren?
    Sie nahmen das untere Deck, auf dem es keine schützende Bordwand gab und wo es nach Diesel und Öl stank. Sie spürte im ganzen Körper das Vibrieren des Motors, der sich so langsam drehte, dass sie glaubte, fast jeden einzelnen Kolbenschlag zählen zu können.
    »Du hast mich einmal nach meinen Träumen gefragt. Erinnerst du dich, was ich geantwortet habe?«, fragte sie ihn, nachdem ein Matrose die Leinen losgemacht hatte.
    »Ja. Du hast gesagt, dass du aus Hongkong kommst und dass du keine Träume hast. Pläne ja, aber keine Träume.«
    »Stimmt. Wie hast du damals reagiert?«
    »Ich war überrascht, und du hast mir ein wenig leid getan«, antwortete Paul. »Ich sagte dir, dass Träume etwas Schönes sein können, und du hast gelacht und den Kopf geschüttelt, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche.«
    »Richtig. In den vergangenen Stunden war ich dabei, mir vorzustellen, wie es wäre, einen zu

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