Das Flüstern der Schatten
haben. Das ist zwar noch kein Traum, aber immerhin ein Anfang, oder?«
»Ja.«
Paul blickte sie an, als wartete er auf eine weitere Erklärung oder einen Vorwurf. Dass er jetzt dabei war, diesen zaghaften Beginn zu zerstören, dass sie Recht gehabt hatte, nicht zu träumen, jetzt sehe sie ja, wie schnell Träume zerstört werden können. Aber sie sagte kein Wort.
»Und?«
»Nichts und.«
Er schaute aufs dunkle, fast schwarze Wasser.
»Ich schulde dir noch eine Erklärung«, sagte er nach einer Weile.
»Du schuldest mir nichts.«
»Es tut mir sehr leid wegen heute Abend und dass ich mein Versprechen nicht...«
Christine legte ihre Hand auf seinen Mund und küsste ihn auf die Wange.
»Ich kann dir...«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich möchte keine Erklärungen. Ich liebe dich. Das genügt.«
Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.
XIX
David hörte, wie Paul seine Schuhe anzog, die Tür öffnete und langsam hinter sich zuzog, wie er über die Terrasse ging, die Treppe zum Weg hinunterstieg, die quietschende Gartenpforte aufmachte und wieder schloss, für einen Moment stehen blieb und sich dann eilig entfernte.
Danach trat Stille ein. Für Sekunden hörte David nichts, bis auf ein kaum wahrzunehmendes Rauschen in seinen Ohren, dann erst vernahm er den Vogelgesang und das schabende Kratzen des Bambus im Garten. Es war eine Stille, wie er sie aus Shenzhen nicht mehr kannte, dort waren menschliche oder mechanische Geräusche allgegenwärtig, selbst nachts, wenn er wach lag neben der schlafenden Mei, drangen Bau- und Autolärm, das Dröhnen der Klimaanlagen oder die Stimmen der Bordellbesucher zu ihm hoch. Die Ruhe, die hingegen in diesem Haus herrschte, tat ihm nicht gut, das merkte er. Sie breitete sich in ihm aus, schob alle Gedanken an den Fall Michael Owen, an Mei oder Paul beiseite, machte Platz für Erinnerungen, mit denen er sich jetzt nicht beschäftigen wollte. Stille, dachte David, ist nicht gut für Menschen, die vergessen wollen.
Er erhob sich vom Sofa und blickte, auf der Suche nach etwas, das ihn ablenken könnte, im Wohnzimmer umher. Er bemerkte den frischen Blumenstrauß auf dem Tisch und die vielen Kerzen überall, beides war mehr als ungewöhnlich für seinen Freund. Wollte Christine heute Abend zu Besuch kommen? Wenn er sich für sie so große Mühe gab, war das ein gutes Zeichen, dann war er dabei, sich herauszutrauen aus der Welt, in die er sich mit seinen Erinnerungen an Justin zurückgezogen hatte. Aber warum hatte er davon nichts gesagt? Vielleicht war es auch besser so? Hätte er um die geplante Verabredung mit Christine gewusst, wäre es ihm, David, nur noch schwerer gefallen, Paul um einen Gefallen zu bitten. Er war dankbar, dass Paul ihm diese Verlegenheit erspart hatte.
David trat an den Tisch und betrachtete die Möbel im Wohnzimmer. Einmal mehr fiel ihm auf, welch schöne chinesische Antiquitäten sein Freund besaß. Der lange, kastanienfarbene Esstisch aus Ulmenholz mit den acht Stühlen stammte aus der Ming-Dynastie, ebenso der dunkelrote, sorgfältig polierte Hochzeitsschrank mit dem runden Messingbeschlag in der Mitte. Beide waren weit über hundert Jahre alt und sehr gut erhalten. In ihrer schlichten klassischen Form strahlten sie eine Ruhe aus, die ihn schon beim ersten Anblick beeindruckt hatte. In einem Regal standen mehrere blau-weiße Porzellanschalen und Teller, Paul hatte ihm einmal erzählt, wie alt sie waren und aus welchen Provinzen sie stammten, aber David hatte es vergessen, er sah nur die grazil gezeichneten Muster, die feine Glasur, die mit viel Liebe gefertigt worden waren. An der Wand hingen zwei Papierrollen mit populären Motiven der klassischen chinesischen Malerei, ein Bambushain und das Bild eines Tempels in den Bergen, Zeichnungen eines Meisters aus dem 18. Jahrhundert, die David schon häufiger bewundert hatte.
Musste man aus dem Westen kommen, um solche Zeugnisse chinesischer Kunst unvoreingenommen schätzen zu können? In der Wohnung eines Chinesen hatte er noch keine Antiquitäten stehen sehen, weder im Haus von Freunden, noch wenn er bei Ermittlungen Fremde besuchte. Alte Schränke und Tische, Betten und Bänke ja, aber sie waren nicht gepflegt, wurden nicht ob ihres Alters oder ihrer Qualität geschätzt, ihre Besitzer hatten sich nur noch nicht von ihnen getrennt, weil sie sich nichts anderes leisten konnten.
David überlegte, ob er sich eines von Pauls Kunstwerken in seine Wohnung hängen oder stellen würde, wenn
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