Das Flüstern der Schatten
er sie bezahlen könnte. Er bezweifelte es. Das alte China, dessen Kultur sein Freund so sehr bewunderte, konnte er in ihnen nicht entdecken, für ihn bedeuteten sie etwas anderes. Er sah in ihnen nicht die hohe handwerkliche Kunst, die klassische Form, die jahrhundertelange Tradition und Erfahrung, die sich dahinter verbargen. Er sah ihre Zerstörung. Er sah, wie sie zertrümmert auf den Straßen lagen, wie sie zerschlagen und in Brand gesteckt wurden, wie er und seine Schulkameraden sie aus Fenstern warfen und auf ihnen herumtrampelten, im Namen der Revolution. Es war ihm nicht möglich, das voneinander zu trennen, selbst wenn er es gewollt hätte.
Ganz oben im Regal stand die Skulptur eines Buddha. David kannte sie gut. Er hatte lang versucht, sie zu ignorieren, war in all den Jahren um sie herumgeschlichen, wie ein verängstigtes Kind um einen bösen Onkel. Sie war das Geschenk eines Chinesen aus Nanjing, der hatte sie nach der Kulturrevolution aus den Trümmern eines Tempels gerettet und Paul gebeten, sie außer Landes zu schmuggeln, um sie für immer in Sicherheit zu bringen, man wisse ja nie, wie es in China weitergeht.
David stellte sich auf einen Stuhl und holte sie herunter. Sie war aus Holz und keine Arbeit von besonderem künstlerischem Wert, die Gesichtszüge des Erleuchteten waren alles andere als filigran, sein Körper, die verschränkten Beine und die rechte, erhobene Hand sehr grob geschnitzt, und trotzdem besaß diese Skulptur für David eine außergewöhnliche Ausstrahlung. Ihr Schöpfer mochte kein begnadeter Künstler gewesen sein, aber irgendetwas hatte er ihr mitgegeben, das David berührte. Sie war ihm vertraut, sie war jetzt, da er sie berührte, mit den Fingern über das poröse Holz strich, auf eine erschreckende Art lebendig. Er stieg vom Stuhl und stellte sie mit zitternden Händen auf den Tisch. Sie war mehr als eine Skulptur. Sie war ein Fenster, durch das er zurückblickte, und was er sah, ließ ihn erschauern.
Vor seinen Augen spulte ein Film ab, die ersten Bilder waren noch verschwommen, wie der Blick durch eine dünne Wand aus Wasser, aber sie wurden mit jeder Sekunde klarer. Er sah sich am Rand des Dorfes stehen, in das er von Chengdu aus mit anderen Schülern und Studenten geschickt worden war. Ein 16-jähriger Junge, voller Angst und Fragen, der niemanden hatte, mit dem er teilen konnte, was ihn bewegte. Er war klein, viel zu klein für sein Alter, der blaue, ausgebleichte Maoanzug war zwei Nummern zu groß und hing an seinem schmächtigen Körper herab wie ein Sack, den ihm jemand übergestülpt hatte. Er war so schüchtern, dass er in Gruppen nur etwas sagte, wenn er gefragt wurde, und auch dann nie mehr als ein paar Worte.
Er roch die warme, feuchte Bergluft, er spürte sie auf seiner Haut, er fühlte den Wind, wie er über die Berge wehte, im Winter die feuchte Kälte brachte und die Lungenentzündungen, vor denen sie sich nicht schützen konnten und an denen am Ende jeder Vierte von ihnen starb. Er hörte die Stimmen der anderen, ihren Gesang, die Schreie, den Jubel, es war ihm alles plötzlich wieder so nah, als wären fünfunddreißig Jahre nicht mehr als ein Wimpernschlag, als gäbe es keinen Unterschied zwischen gestern und heute. Als würde ein Leben nicht ausreichen, um dies alles zu vergessen.
Er brauchte Ablenkung, er wollte diesen Film nicht sehen und ging zur Stereoanlage, schaltete sie ein, schob wahllos eine CD in das Gerät, es erklang Klaviermusik, die ruhige, betörend schöne Musik eines westlichen Komponisten, David glaubte, Chopin zu erkennen, sie hörten diese Platte häufiger, wenn sie Schach spielten, dann gab sie ihm Ruhe und Kraft, jetzt half sie nicht, die Schönheit dieser Musik machte alles nur noch schlimmer. Er stellte sie sofort wieder ab, der Film in seinem Kopf lief trotzdem weiter:
Ein nebeliger Herbsttag in den Bergen Sichuans, die Wolken liegen tief in den Tälern, in der Ferne verschwinden die Reisfelder in ihnen, als könnten Himmel und Erde sich vereinen. Ein Trupp der Roten Garden marschiert auf einem matschigen Damm quer durch das Feld, vornweg läuft wie immer der Anführer der Brigade. Manche halten rote Fahnen in den Händen und schwenken sie mit kräftigen Bewegungen durch die Luft, sie singen Lieder der Revolution, und ihr heller, lauter Gesang schallt durch das Tal. Es sind junge, gläubige Stimmen, die noch nicht die Spur eines Zweifels kennen. Zhang geht barfuß, der Matsch quillt bei jedem Schritt durch seine Zehen, er
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