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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Sohn wäre jetzt elf Jahre alt, und niemals hätte er ihn mit einer solchen Frage, einer solch schwierigen Entscheidung belastet. Und doch half ihm die Idee, er müsste Justin Rede und Antwort stehen. Er stellte sich vor, wie er Justin gegenüber seinen Entschluss begründen würde, in einfachen, klaren Sätzen.
    Justin, hör mal zu: Ich fahre heute Abend doch nicht nach China.
    Warum nicht, Papa?
    Weil ich Christine versprochen habe, nicht zu fahren, und Versprechen muss man halten.
    Und was ist mit David?
    In diesem Fall kann ich für meinen Freund nichts tun.
    Warum nicht?
    Weil ich kein Polizist bin.
    Aber er braucht dich. Er hat dich um deine Hilfe gebeten. Kann ihm denn jetzt nur ein Polizist helfen?
    Nein. Die können ihm gerade überhaupt nicht helfen.
    Wer kann ihm sonst helfen?
    Das weiß ich nicht.
    Aber er ist doch dein bester Freund, oder?
    Ja.
    Seinem besten Freund muss man immer helfen, hast du mal gesagt.
    Das stimmt.
    Also ist er nicht mehr dein Freund?
    Natürlich ist er noch mein Freund. Wie kommst du darauf?
    Weil du ihm nicht hilfst.
    Ich habe dir doch erklärt, was ich Christine versprochen habe.
    Damit wäre er bei Justin nicht durchgekommen, niemals. Spätestens in diesem Moment hätte sein Sohn das Spiel durchschaut und ihn mit einem bösen Blick aus den Augenwinkeln bestraft.
    Nicht schwindeln, Papa, sag die Wahrheit.
    Und die Alternative? Wie würde das Gespräch verlaufen, wenn er die entgegengesetzte Entscheidung begründen müsste?
    Justin, hör mal zu: Ich fahre jetzt nach China.
    Warum?
    Weil mich David darum bittet.
    Aber du hast Christine versprochen, nicht zu fahren.
    Das stimmt. Aber mein Freund ist in Gefahr. Er braucht mich.
    Und Christine? Braucht sie dich nicht?
    Doch. Aber sie ist nicht in Gefahr.
    Warum möchte sie dann nicht, dass du fährst?
    Weil sie Angst um mich hat.
    Muss sie denn Angst um dich haben?
    Nein, ich werde nur mit ein paar Leuten reden und morgen oder übermorgen schon wieder da sein.
    Warum erklärst du ihr das nicht und fährst dann? Wenn es nur für so kurz ist, wird sie es bestimmt verstehen.
     
    »Das Hotel«, sagte Paul mit bedächtiger Stimme, »ist der einzige Ansatzpunkt, den wir haben. Ich sehe nur eine realistische Möglichkeit, etwas zu tun, ohne dich weiter in Gefahr zu bringen: Ich fahre hin, nehme mir ein Zimmer, lass mich massieren, gehe in die Bar und sage jedem, den ich treffe, dass ich ein guter Freund von Michael Owen bin. Wenn er dort häufig gewohnt hat, wird ihn jemand kennen und etwas über ihn erzählen können.«
    »Lass mich das machen.«
    »Du? Als Bekannter Michael Owens? Ich glaube, da bin ich die überzeugendere Besetzung, meinst du nicht?«
    »Mit Sicherheit. Aber was ist mit Christine?«
    Paul überlegte kurz, ob er seine Fahrt nach Shenzhen einfach verschweigen sollte. Nein, das wollte er nicht. Er wird es ihr erklären, sie wird es verstehen, so wie Justin gesagt hat.
    »Ich rufe sie später von der Fähre aus an.«
    David sah nicht aus, als wenn er lange widersprechen wollte. Paul ging hinauf, packte ein paar Sachen in eine Tasche, steckte Ausweis, Geld und Kreditkarten ein und kam wieder herunter. Er fühlte sich besser, erleichtert, das Gefühl der quälenden Lähmung war verschwunden. Eine, nein, diese Entscheidung getroffen zu haben, tat ihm gut.
    Sein Freund lag auf dem Sofa, hatte die Augen geschlossen und sah aus, als meditiere er.
    »David?«
    »Ja«, antwortete er, ohne Paul anzuschauen.
    »Ich mach mich auf den Weg. Mein Bett ist frisch bezogen. Im Kühlschrank liegen Sachen, wenn etwas fehlt, musst du nach Yung Shue Wan runter. Hast du Hongkong-Dollar?«
    »Nicht mehr viele.«
    »Ich lege dir fünfhundert auf den Küchentresen. Ich rufe dich an, sobald ich im Hotel bin. Sind die Telefone im Century sicher, oder werden sie abgehört?«
    »Solange sie keinen Verdacht schöpfen, sind sie sicher, und warum solltest du ihnen verdächtig erscheinen?«
    »Brauchst du noch irgendetwas? Aspirin? Etwas zum Lesen?«
    »Nein.« David öffnete die Augen. »Sei vorsichtig und vielen Dank. Mir ist klar, was du da für mich tust.«
     
    Paul hatte es jetzt eilig. Er lief mit großen Schritten den Hügel hinunter ins Dorf. Er bewegte sich so ungewöhnlich schnell, dass die Alten, die auf dem Feld das Unkraut jäteten, erstaunt ihre Köpfe hoben und ihm nachblickten.
    Kaum hatte das Schiff abgelegt, rief er Christine an.
    »Ich bin es, Paul.«
    »Das weiß ich doch, ob du es glaubst oder nicht: Ich erkenne dich beim ersten

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