Das Fluestern des Todes
Weile, doch die Stille schien ihr unbehaglich zu werden.
»Also, was wollen Sie von meinem Leben wissen?«
Er trank einen Schluck Kaffee, der – dem dünnen Geschmack nach zu urteilen – wirklich koffeinfrei sein musste. »Ein bisschen weiß ich ja schon. Ich weiß, dass du einen Bruder hast. Ich habe ihn im Sommer gesehen.«
Sie lächelte. »Ist er nicht süß? Louis. Er ist fünf Jahre alt.«
»Louis – wie dein Großvater.«
Sie sah ihn überrascht an. »Sie kennen meine Großeltern?«
»Ich habe sie mehrfach getroffen. Ich mochte sie sehr. Sind sie noch am Leben?«
»Ja, natürlich.« Das Thema schien sie zu faszinieren. »Was ist denn mit meinen anderen Großeltern?«
»Sie starben schon vor langer Zeit. Ich kann mich nicht mal an sie erinnern.«
»Oh. Haben Sie denn Geschwister?«
Er schüttelte den Kopf und sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht. Seit Jahren hatte sie offensichtlich über die andere Seite ihrer Familie nachgedacht – und wurde nun mit der Tatsache konfrontiert, dass er nur sich selbst anbieten konnte – eigentlich nicht einmal eine vollwertige Person.
»Und was ist mit Louis’ Vater?«
Die Frage schien sie zu deprimieren, und für den Bruchteil einer Sekunde malte sich seine Fantasie ein zerrüttetes Familienleben aus. »Er ist auch gestorben. Vor drei Jahren. Bei einem Autounfall.«
Lucas hätte sich ohrfeigen können, weil seine spontane Reaktion Erleichterung war – Erleichterung darüber, dass der Mann tot war. Es sollte ihm eigentlich gleichgültig sein, weil er wusste, dass Madeleine ihn ohnehin nicht wieder in ihr Leben lassen würde, aber er fühlte sich doch erleichtert, weil es keinen anderen Mann in ihrem Leben gab.
Er spürte aber, wie traurig Isabelle bei seiner bloßen Erwähnung geworden war, und fühlte mit ihr, fühlte auch mit Louis, der im Sommer an die Haustür gekommen war, um zu sehen, wer denn dort vor der Tür stand. Und er fühlte auch mit Madeleine, die es verdient hatte, glücklich zu sein, aber stattdessen so schlecht behandelt worden war – zunächst von ihm, dann vom Schicksal.
Sie schien sich wieder zu beruhigen. »Wir sollten heute nicht über so traurige Dinge reden. Leben Sie in England?«
»Nein, in der Schweiz.«
Sie lachte. »Dafür ist Ihr Französisch aber wirklich mäßig.«
»Stimmt, aber ich lebe in der deutschsprachigen Schweiz.«
»Sprechen Sie denn Deutsch?«
»Nein.« Diesmal lachte sie so laut, dass einige der Gäste aufschauten und ihr zulächelten.
»Ich könnte Ihnen Französisch beibringen. Etwas Deutsch auch. Kann man Skifahren, wo Sie leben?«
»Ja, wir haben gute Pisten. Ich hoffe, du kommst einmal vorbei.«
»Das hoffe ich auch.« Er lächelte. Er wollte am liebsten aufstehen und dem ganzen Café in seinem hoffnungslosen Französisch verkünden, dass dies seine Tochter war. Aber es war eigentlich schon genug, nur mit ihr zusammen zu sein – und zu wissen, dass sie ihn nicht hasste.
Er ging zusammen mit ihr zum Haus zurück, doch kurz davor blieben sie stehen.
»Ich werde einige Tage in Paris bleiben. Vielleicht können wir uns ja noch mal treffen.«
»Natürlich, das müssen wir unbedingt. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind.«
»Ich auch. Und es tut mir leid, dass ich …« Was tat ihm eigentlich leid? Dass er sich nie hatte sehen lassen? Dass er die Person war, die er nun einmal war? »Alles tut mir leid.«
»Das gehört jetzt der Vergangenheit an«, sagte sie, auch wenn sie wusste, dass es nicht wirklich der Wahrheit entsprach.
Sie schien zu zögern und war sich wohl unsicher, überwand ihre Scheu dann aber doch und umarmte ihn. Er zuckte zusammen und befürchtete, dass sie durch seine Kleidung die Pistole spüren konnte, doch dann wurde ihm zu seiner grenzenlosen Erleichterung klar, dass er inzwischen ja keine mehr trug.
Er beobachtete, wie sie zum Haus ging. Als sie fast an der Tür angekommen war, überquerte er die Straße und ließ sich auf den Sitz seines Autos fallen. Es war die erste Gelegenheit, den Vorfall zu verarbeiten. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Es war eine Euphorie, die er am liebsten hinausgeschrien hätte, die seinen Körper elektrisierte und seine Hände zittern ließ. Regungslos saß er einige Minuten lang da, traumatisiert von dem Glück, sie gefunden zu haben.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich an der Haustür etwas bewegte. Und bevor er sich versah, hatte Madeleine – anscheinend schnaubend vor Wut – bereits den
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