Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
I. FALLHöHE
Eric und Kristen sind auf unvertrautem Terrain. Sie kennen sich erst wenige Wochen, aber für sie steht fest, dass es Liebe ist, die große, glühende Liebe.
Und diese Liebe, dieses unverhoffte Geschenk, ist so schnell über sie gekommen, mit solcher Intensität! Und genau im rechten Moment. Sie sind jung – Eric ist vierundzwanzig, Kristen zweiundzwanzig -, aber beide hatten sie, als sie sich kennengelernt haben, eine lange, krisengebeutelte Beziehung hinter sich. Kristen hatte sich frisch von ihrem Freund getrennt, mit dem sie vier Jahre zusammen war. Und Erics Scheidung – nach drei Jahren Ehe – ist erst diese Woche rechtskräftig geworden.
Um das zu feiern, haben sie sich ein Hotelzimmer im Stadtzentrum genommen und ein ganzes Wochenende hindurch kaum einen Fuß nach draußen gesetzt. Und es sind die letzten Stunden ihrer letzten Nacht dort, und sie haben sich gerade eben geliebt. Jetzt flüstern sie sanft und süß im Dunkeln. Erinnerungen, Geheimnisse, alles. Dieser Sturzbach aus Worten berauscht sie ebenso sehr wie der warme, feuchte Körper des anderen unter der Decke. Alles, was sie jetzt sagen und tun, scheint ihnen mit Bedeutung behaftet, mit einer großen, intimen Symbolik, die sie feierlich stimmt, weil sie für ihr Zusammensein mit seinen sämtlichen Versprechungen steht.
Kristen wispert: Erzähl mir was. Ganz egal was. Einfach irgendwas, was dir wichtig ist.
Sag mir, was du wissen willst, sagt Eric. Du darfst alles wissen. Ich habe keine Geheimnisse vor dir.
Irgendwas, was nur du mir erzählen könntest. Was dich ganz und gar ausmacht.
Egal was?
Was dir am lebhaftesten in Erinnerung ist. Und dann bin ich dran.
Eric schweigt, aber sie spürt seine Hand warm und flach an ihrem Bauch. Seine Finger biegen sich zusammen und wieder auf.
Na ja, bei mir ist es was Schlimmes, sagt er.
Bei mir was Schönes, sagt sie.
Kristen hat vor, ihm zu erzählen, wie es war, als sie ihn das erste Mal gesehen hat – vielleicht nicht die schwerwiegendste ihrer Erinnerungen; die wäre der Tod ihrer Mutter, den sie bisher nur andeutungsweise erwähnt hat und an den sie nur ungern denkt. Aber was im Moment den ersten Platz in ihrem Gedächtnis einnimmt, das ist Eric, vor nicht mal einem Monat, als sie beide an der Kinokasse anstanden: der breite Keil seines Rückens und das langsame Lächeln auf seinem Gesicht, diese Unschlüssigkeit, mit der er so sichtbar kämpfte, während er ihre Blicke erwiderte. Er ging allein ins Kino; sie auch. Sie sah ihn, und er lächelte sie an, schaute immer wieder her, rang mit seiner Schüchternheit, und sie wusste – wusste es ganz einfach -, dass aus ihnen ein Paar werden würde. Das will sie ihm sagen. Kristen hatte ihn angesprochen – so kühn war sie noch nie gewesen -, und nach ein paar stockenden ersten Sätzen hatten sie beide über sich selbst lachen müssen, über die Offenkundigkeit ihrer Hemmungen und Wünsche und die Freude an ihrer eigenen Beherztheit, und dann hatten sie sich nebeneinander gesetzt. Und sie hat Recht behalten. Es ist ein Paar aus ihnen geworden. Jetzt sind sie hier, zusammen.
Sie will ihm sagen, dass es für sie keine Sekunde des Zweifelns gab.
Bei mir ist es was richtig Schlimmes, sagt Eric. Ich weiß nicht, ob das jetzt so gut passt.
Erzähl’s mir. Es ist gut, dass du den Anfang machst. Fangen wir mit dem Schlimmen an, dann können wir mit dem Schönen aufhören.
Bist du sicher?
Ich glaube, wir können mit allem fertig werden, sagt sie. Mit absolut allem. Glaubst du nicht?
Er verschiebt sein Gewicht ein bisschen, küsst sie auf die trockenen Lippen und bringt dann den Mund an ihr Ohr.
Ich war sieben, als es passiert ist. Meine Familie war in einen Naturpark im Süden von Indiana gefahren, und in diesem Park gab es ein paar ziemlich steile Schluchten und Felswände. Mein Vater und meine Mutter waren dabei, und meine kleine Schwester und unser – mein – Hund. Er hieß Gale; so hatte ich ihn genannt, weil er schnell war wie der Wind. Ich war stolz auf den Namen, ich fand es einen grandiosen Einfall von mir. Gale war ein Mischling, ein Schäferhundmischling, ungefähr zwei Jahre alt, aber wir hatten ihn schon als Welpen bekommen. Ich hatte ihn aufgezogen. Er hat nachts bei mir geschlafen. Ich hab ihn über alles geliebt. Er war einer von diesen Hunden, die richtig gute Spielkameraden sind, weißt du – er hat immer schon auf mich gewartet, wenn ich aus dem Bus gestiegen bin, und aufgepasst, dass andere Kinder mir
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