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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Doktor Wagner — ein Wiener, der seit Jahren in Paris praktizierte, daher die Aussprache »Wagnère« bei denen, die Vertrautheit mit ihm bekunden wollten — wurde seit etwa zehn Jahren regelmäßig von zwei revolutionären Gruppen der unmittelbaren Nachachtundsechzigerzeit nach Mailand eingeladen. Sie machten ihn sich gegenseitig streitig, und natürlich gab jede Gruppe eine radikal andere Version seines Denkens. Wieso und warum es dieser berühmte Mann akzeptiert hatte, sich von außerparlamentarischen Gruppen sponsern zu lassen, habe ich nie ganz kapiert. Seine Theorien waren politisch neutral, und wenn er wollte, konnte er 273
    sich von Universitäten, Kliniken, Akademien einladen lassen. Ich glaube, er hatte die Einladungen von diesen Gruppen angenommen, weil er im Kern ein Epikureer war und Anspruch auf fürstliche Aufwandsentschädigungen erhob.
    Die Privaten konnten mehr aufbringen als die akademischen Institutionen, und für den Doktor Wagner hieß das Reisen erster Klasse und Luxushotels, plus Honorare für Vorträge und Seminare, berechnet nach seinem Therapeutentarif.
    Wieso dann die beiden Gruppen eine ideologische Inspira-tionsquelle in Wagners Theorien fanden, war eine andere Geschichte. Aber in jenen Jahren erschien die Wagnersche Psychoanalyse hinreichend dekonstruktiv, diagonal, libidi-nal und nicht-cartesianisch, um der revolutionären Arbeit theoretische Anstöße bieten zu können.
    Als schwierig erwies sich freilich, sie den Arbeitern zu vermitteln, und vielleicht waren die beiden Gruppen deswegen an einem bestimmten Punkt gezwungen gewesen, sich zwischen den Arbeitern und Wagner zu entscheiden, und hatten sich für Wagner entschieden. So wurde die Idee entwickelt, das neue revolutionäre Subjekt sei nicht das Proletariat, sondern der Deviante.
    »Statt die Proletarier deviieren zu lassen, lieber die Devi-anten proletarisieren«, sagte Belbo eines Tages zu mir. »Ist auch billiger, bei Doktor Wagners Preisen.«
    Tatsächlich war die Revolution der Wagnerianer wohl die teuerste in der Geschichte.
    Der Verlag Garamond hatte, finanziert von einem Psycholo-gischen Institut, eine Sammlung kleinerer Schriften Wagners übersetzen lassen, sehr fachspezifische Texte, aber inzwischen nirgends mehr aufzutreiben und darum sehr gefragt bei den Jüngern. Wagner war nach Mailand zur Präsentation des Bandes gekommen, und bei der Gelegenheit hatte seine Beziehung zu Belbo begonnen.
    Filename: Doktor Wagner
    Der diabolische Doktor Wagner
    Sechsundzwanzigste Folge
    Wer hätte, an jenem grauen Morgen des
    274
    In der Diskussion hatte ich einen kritischen Einwand geäußert. Der satanische Alte war gewiß verärgert darüber, aber er ließ sich nichts anmerken. Im Gegenteil, er antwortete, als wollte er mich verführen.
    Wie Charlus mit Jupien, Biene und Blüte. Ein Genius erträgt es nicht, von jemandem nicht geliebt zu werden, er muß den Dissidenten sofort verführen, um seine Liebe zu erzwingen. Es gelang ihm, ich liebte ihn.
    Doch er konnte mir nicht verziehen haben, denn am selben Abend, als wir über die Scheidung sprachen, versetzte er mir einen tödlichen Hieb. Ohne es zu wissen, instinktiv: Ohne es zu wissen, hatte er mich zu verführen versucht, und ohne es zu wissen, beschloß er, mich zu bestrafen. Auf Kosten der Standes-ethik hat er mich gratis analysiert. Das Unbewußte beißt auch seine Wächter.
    Geschichte des Marquis de Lantenac in Victor Hugos Dreiund-neunzig. Das Schiff der Vendéens operiert in schwerer See vor der bretonischen Küste, plötzlich löst sich eine Kanone aus ihrer Ver-ankerung, und während das Schiff rollt und stampft, beginnt sie wie verrückt von einer Seite zur andern zu rasen und droht, riesiges Ungetüm, das sie ist, Backbord und Steuerbord zu durchbre-chen. Ein Kanonier (leider derselbe, dessen Nachlässigkeit die Schuld daran trug, daß die Kanone nicht genügend festgezurrt worden war) stürzt sich mit einem Mut ohnegleichen und mit einer Kette in Händen direkt vor das Ungetüm, das ihn beinahe zermalmt, stoppt es, fängt es ein, führt es an seinen Trog zurück und rettet derart das Schiff, die Besatzung und die Mission. In feierlicher Liturgie läßt der schreckliche Lantenac die Männer auf dem Vorderdeck antreten, lobt den Tapferen, reißt sich eine hohe Dekoration von der Brust und steckt sie ihm an die seine, umarmt ihn, und hoch zum Himmel tönt der Matrosen Hurra.
    Dann, diamanthart, erinnert Lantenac daran, daß der so Ausge-zeichnete der Verantwortliche

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