Das Foucaultsche Pendel
darüber zu diskutieren, weil man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Boing Wumm Krach Ratatata. Wir hockten uns unter das Waschbecken, ich, meine Schwester und die Mama. Nach einer Weile kam Onkel Carlo durch den Flur gerobbt, um uns zu sagen, daß wir auf unserer Seite zu ex-portiert wären, wir sollten rüberkommen zu ihnen. So sind wir rübergekrochen in den anderen Flügel, wo Tante Caterina heulte, weil die Großmutter noch draußen war...«
»War das damals, als Ihre Großmutter auf dem Maisfeld lag, zwischen den beiden Feuerlinien?« fragte ich.
»Woher wissen Sie das?«
»Sie haben es mir 1973 erzählt, am Tag nach dieser Demonstration.«
»Gott, was für ein Gedächtnis! Bei Ihnen muß man gut aufpassen, was man erzählt... Ja, das war damals. Aber auch mein Vater war draußen. Wie wir später erfuhren, war er im Zentrum der Stadt gewesen, er hatte sich unter einen Torbogen geflüchtet und konnte nicht raus, weil sie auf der Straße einander beschossen, von einem Ende zum andern, und vom Turm des Rathauses bestrich ein Trupp Schwarze Brigaden den Platz mit einem Maschinengewehr. In den Torbogen hatte sich auch der faschistische Ex-Bürgermeister geflüchtet. Nach einer Weile sagte er, jetzt könnte er’s schaffen, nach Hause zu rennen, er müsse nur um die Ecke. Er wartete eine Pause ab, stürzte raus, erreichte die Ecke und wurde von hinten riedergemäht von dem MG auf dem Rathaus-turm. Die einzige Gefühlsregung meines Vaters, der schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, war: besser im Torbogen bleiben.«
»Ein Ort voll süßer Erinnerungen, das hier«, bemerkte Diotallevi.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Belbo, »aber sie sind 389
wirklich sehr süß. Und sie sind das einzige Wahre, an das ich mich erinnere.«
Die anderen begriffen nicht, was er meinte, ich ahnte es und jetzt weiß ich’s. Besonders in jenen Monaten, als wir in den Lügen der Diaboliker schwammen, und nachdem er jahrelang seine Enttäuschung in romanhafte Lügen gekleidet hatte, erschienen ihm die Tage von *** in der Erinnerung wie eine Welt, in der alles klar und eindeutig ist, eine Kugel war eine Kugel, entweder sie ging daneben oder sie traf, und die beiden Seiten hoben sich klar voneinander ab, gekennzeich-net durch ihre Farben, Rot und Schwarz oder Khaki und Graugrün, ohne Zweideutigkeiten — zumindest schien es ihm damals so. Ein Toter war ein Toter war ein Toter war ein Toter. Nicht wie der Oberst Ardenti, der bloß irgendwie verschwunden war. Ich dachte, vielleicht sollte ich ihm von der Synarchie erzählen, die schon in jenen Kriegsjahren umging.
War es nicht synarchisch gewesen, wie Onkel Carlo und Terzi einander begegnet waren, als Gegner auf entgegengesetzten Fronten, doch beide erfüllt vom selben Ritterideal?
Aber warum sollte ich ihm sein Combray nehmen? Seine Erinnerungen waren süß für ihn, weil sie ihm von der einzigen Wahrheit sprachen, die er je gekannt hatte, und die Zweifel waren erst später gekommen. Nur daß er — er selber hatte es mir zu verstehen gegeben — sogar in den Tagen der Wahrheit bloß zugeschaut hatte. Er betrachtete in der Rück-schau die Zeit, als er die Geburt des Gedächtnisses anderer beobachtet hatte, die Geburt der Geschichte und all der vielen Geschichten, die andere dann schreiben würden.
Oder hatte es doch einen Moment der Größe und der Entscheidung gegeben? Denn nun sagte er: »Und dann voll-brachte ich an jenem Tag die Heldentat meines Lebens.«
»O mein John Wayne!« rief Lorenza. »Erzähl!«
»Och, es war nichts Besonderes. Nachdem wir in den andern Flügel rübergekrochen waren, versteifte ich mich darauf, im Flur stehenzubleiben. Das Fenster war am Ende, wir waren im ersten Stock, hier kann mich niemand treffen, sagte ich. Und fühlte mich wie der Kapitän, der aufrecht auf der Brücke steht, während ihm die Kugeln um die Ohren pfei-fen. Dann wurde Onkel Carlo wütend, packte mich am Schlafittchen und zog mich rein, ich heulte los, weil das Vergnügen zu Ende war, und im selben Moment hörten wir 390
drei scharfe Schläge und Scherbenklirren und eine Art Auf-prall, als ob jemand draußen im Flur mit einem Tennisball spielte. Eine Kugel war durchs Fenster eingedrungen, war von einem Wasserrohr abgeprallt und hatte sich in den Boden gebohrt, genau an der Stelle, wo ich noch eben gestanden hatte. Wenn ich noch draußen gewesen wäre, hätte sie mich vielleicht gelähmt. Mindestens.«
»O Gott, ich hätte dich nicht gerne lahm gehabt«, rief
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