Das Foucaultsche Pendel
sechs Enthaupteten liegen. Eine der Frauen trug ein Kästchen, aus dem sie ein rundes Objekt nahm, das sie in eine Bogenöffnung des mittleren Turmes legte, woraufhin sofort das Wasser oben aus dem Brunnen zu sprudeln begann. Ich konnte das Objekt gerade noch rechtzeitig erkennen, es war der Kopf des Mohren, der nun wie ein Holzscheit brannte und das Wasser des Brunnens zum Sieden brachte. Dämpfe, Fauchen, Brodeln...
Lorenza legte mir diesmal die Hand in den Nacken und kraulte ihn, wie sie es mit Belbo im Auto getan hatte. Die Frau brachte eine goldene Kugel herein, öffnete einen Hahn am Unterbau des Kessel-Schlößchens und ließ eine dicke rote Flüssigkeit in die Kugel fließen. Dann wurde die Kugel geöffnet, und statt der roten Flüssigkeit enthielt sie ein schö-
413
nes großes, schneeweißes Ei. Die Frauen nahmen es heraus und legten es auf den Boden, wo es in einem Häufchen gelben Sandes ruhte, bis es aufplatzte und ein kleiner Vogel herauskam, noch ganz blutig und ungestalt. Doch genährt mit dem Blut der Enthaupteten, wuchs er rasch vor unseren Augen und wurde herrlich und schön.
Dann köpften sie auch den Vogel und verbrannten ihn auf einem kleinen Altar zu Asche. Einige kneteten die Asche mit Wasser zu einem dünnen Teig, gossen den Teig in zwei Formen und taten die Formen in einen Ofen, dessen Feuer sie mit Blasrohren entfachten. Schließlich wurden die Formen geöffnet, und es erschienen zwei blasse und zarte, fast durchsichtige Gestalten, ein Knabe und ein Mädchen, nicht größer als vier Zoll, weich und fleischig wie lebende Wesen, aber mit glasigen, mineralischen Augen. Sie wurden auf zwei Kissen gelegt, und ein alter Mann goß ihnen Blutstrop-fen in den Mund...
Dann erschienen weitere Frauen mit langen goldglänzenden Trompeten, die mit grünen Kränzen geschmückt waren, und sie reichten eine davon dem Alten, der sie den beiden Kreaturen an den Mund hielt, die noch zwischen pflanzlicher Lethargie und sanftem tierischem Schlaf verharrten, und der Alte begann, Odem in ihre Leiber zu hauchen... Der Saal füllte sich mit Licht, das Licht verdämmerte zu einem Halbdunkel, dann zu einer Finsternis, die von orangenen Blitzen durchzuckt wurde, dann war es eine gewaltige Mor-genröte, während Trompeten hoch und strahlend ertönten, und es war ein Gleißen wie von Rubinen, unerträglich. Und in diesem Moment verlor ich Lorenza erneut und begriff, daß ich sie niemals wiederfinden würde.
Alles überzog sich mit einem flammenden Rot, das langsam zu Indigo und Violett verglomm, und der Schirm erlosch. Das Hämmern in meiner Stirn war unerträglich geworden.
»Mysterium Magnum«, sagte Agliè neben mir, nun wieder mit seiner normalen, ruhigen Stimme. »Die Wiedergeburt des neuen Menschen durch Tod und Leidenschaft. Gute Per-formance, muß ich sagen, auch wenn die Lust am Allegori-schen vielleicht ein bißchen die Präzision der Phasen beein-414
trächtigt hat. Was Sie gesehen haben, war eine Darstellung, versteht sich, aber sie handelte von einer Sache, einem realen Ding. Und dieses Ding behauptet unser Gastgeber nun erzeugt zu haben. Kommen Sie, gehen wir uns das voll-brachte Wunder ansehen.«
415
59
Und wenn solche Monster erzeugt werden, muß
man denken, es seien Werke der Natur, auch
wenn sie verschieden vom Menschen erscheinen.
Paracelsus, De Homunculis, in Operum Volumen Secundum, Genf, De Tournes, 1658, p. 475
Agliè führte uns in den Garten hinaus, und sofort fühlte ich mich besser. Ich wagte die anderen nicht zu fragen, ob Lorenza wirklich wiedergekommen war. Ich hatte geträumt.
Doch nach wenigen Schritten traten wir in ein Gewächs-haus, und erneut betäubte mich die erstickende Wärme. Zwischen den Pflanzen, die zumeist tropisch waren, standen sechs Glasgefäße in Form von Birnen — oder von Tränen —
, jedes hermetisch verschlossen mit einem Siegel und angefüllt mit einer hellblauen Flüssigkeit. In jedem von ihnen schwamm ein etwa zwanzig Zentimeter großes Wesen. Wir erkannten den grauhaarigen König, die Königin, den Mohren, den Krieger und das lorbeerbekränzte Kinderpaar, er blau und sie rosa... Sie bewegten sich mit graziösen Schwimmbewegungen, als wären sie in ihrem Element.
Es war schwer zu entscheiden, ob es sich um Modelle aus Plastik oder Wachs handelte oder um lebende Wesen, auch weil die leichte Trübung der Flüssigkeit nicht erkennen ließ, ob das sanfte Atmen, das sie belebte, eine optische Täuschung oder Wirklichkeit war.
»Es scheint, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher