Das Foucaultsche Pendel
Meisterwerke der Literatur in Comic-Form präsentierte. Nicht aus Knausrigkeit, eher aus Argwohn gegenüber Comic Strips versuchte mein Vater, sich zu drücken. »Das Ziel dieser Zeitschrift ist«, erklärte ich daraufhin feierlich, den Wer-bespruch der Serie zitierend, denn ich war ein pfiffiger und eloquenter Knabe, »auf unterhaltsame Weise zu erziehen.«
Mein Vater erwiderte, ohne die Augen von seiner Zeitung zu heben: »Das Ziel deiner Zeitung ist das Ziel aller Zeitungen, nämlich so viele Exemplare wie möglich zu verkaufen.«
An jenem Tag begann ich, ungläubig zu werden.
Will sagen, es reute mich, gläubig gewesen zu sein. Ich hatte mich von einer Passion des Geistes verführen lassen.
Das ist Gläubigkeit.
Nicht daß der Ungläubige an nichts glauben dürfte. Er glaubt nur nicht an alles. Er glaubt jeweils an eine Sache und an eine zweite nur, wenn sie sich irgendwie aus der ersten ergibt. Er geht kurzsichtig vor, methodisch, ohne Horizonte zu riskieren. Von zwei Sachen, die nicht zusammenpassen, 58
alle beide zu glauben, mit der Idee im Kopf, es gebe irgendwo noch eine dritte, die sie vereine — das ist Gläubigkeit Ungläubigkeit schließt nicht Neugier aus, sie ermuntert sie. Mißtrauisch gegenüber Ideenketten, liebte ich von den Ideen die Polyphonie. Es genügt, nicht daran zu glauben, und zwei Ideen — die beide falsch sind — können zusammen ein gutes Intervall erzeugen oder einen diabolus in musi-ca. Ichrespektierte nicht die Ideen, auf die andere ihr Leben verwetteten, aber zwei oder drei Ideen, die ich nicht respektierte, konnten eine Melodie ergeben. Oder einen Rhythmus, am besten im Jazz.
Später sollte mir Lia sagen: »Du lebst von Oberflächen.
Wenn du tief scheinst, dann weil du viele davon verklam-merst und so den Anschein eines Festkörpers erzeugst —
eines Festkörpers, der, wenn er fest wäre, nicht stehen könn-te.«
»Willst du damit sagen, ich wäre oberflächlich?«
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Was die anderen Tiefe nennen, ist nur ein Tesserakt, ein vierdimensionaler Kubus. Du trittst auf der einen Seite hinein, auf der andern hinaus, und befindest dich in einer Welt die nicht mit deiner Welt koexi-stieren kann.«
(Lia, ich weiß nicht, ob ich dich je wiedersehen werde, jetzt da sie auf der falschen Seite eingetreten sind und deine Welt überfallen haben, und das durch meine Schuld: ich habe sie glauben lassen, daß da Abgründe wären, wie sie es in ihrer Schwäche wollten.)
Was dachte ich wirklich vor fünfzehn Jahren? Im Bewußtsein meiner Ungläubigkeit fühlte ich mich schuldig unter so vielen Gläubigen. Da ich fühlte, daß sie im Recht waren, beschloß ich zu glauben, so wie man ein Aspirin nimmt. Es tut nicht weh, und man fühlt sich besser.
Ich fand mich mitten in der Revolution, oder jedenfalls in der verblüffendsten Simulation der Revolution, die es je gegeben hat, und suchte nach einem ehrenhaften Glauben. Ich fand es ehrenhaft, an den Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen, ich schrie im Chor mit den andern:
»Faschisten, Bürgerschweine, bald machen wir euch Beine!«, ich warf keine Steine und schleuderte keine Stahlkugeln, weil ich immer Angst hatte, daß die andern mit mir machen würden, was ich mit ihnen machte, aber ich empfand eine 59
Art von moralischem Hochgefühl, wenn ich durch die Gassen der Innenstadt vor der Polizei davonlief. Ich kam nach Hause mit dem Gefühl, eine Pflicht getan zu haben. In den Versammlungen konnte ich mich nicht für die Ideologiede-batten erwärmen, die zwischen den verschiedenen Gruppen geführt wurden — ich hatte immer den Verdacht, daß es genügen würde, das richtige Zitat zu finden, um aus der einen in die andere Gruppe zu wechseln. Ich amüsierte mich mit der Suche nach dem richtigen Zitat. Ich modulierte.
Da es mir bei Demonstrationen hin und wieder passiert war, daß ich mich hinter dem einen oder anderen Spruch-band einreihte, um einem Mädchen zu folgen, das meine Phantasie erregte, zog ich daraus den Schluß, daß für viele meiner Genossen die politische Aktivität eine sexuelle Erfahrung war — und Sex war eine Passion. Ich wollte bloß neugierig sein. Gewiß, bei meinen Studien über die Templer und die diversen Greuel, die man ihnen zugeschrieben hat, bin ich auf die These des Karpokrates gestoßen, nach der man, um sich von der Tyrannei der Engel, der Herren des Kosmos, zu befreien, jede Schandtat begehen und die Ver-pflichtungen abschütteln müsse, die mit dem Universum und
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