Das Foucaultsche Pendel
mit dem eigenen Körper ausgehandelt worden sind, denn nur wenn man alle Taten begehe, könne die Seele sich freimachen von ihren Leidenschaften, um zur ursprünglichen Reinheit zurückzugelangen. Während wir den Großen Plan erfanden, entdeckte ich, daß viele Mysteriensüchtige in ihrem Streben nach Erleuchtung diesen Weg gehen. Doch Aleister Crowley, der als der perverseste Mensch aller Zeiten definiert worden ist und der folglich alles, was er nur irgend konnte, mit Verehrern beider Geschlechter getan haben muß, hatte nach Auskunft seiner Biographen nur extrem häßliche Frauen (ich vermute, daß auch die Männer, nach dem, was sie schrieben, nicht besser waren), und mir bleibt der Verdacht, daß er’s nie richtig getrieben hat.
Es muß wohl an einem Zusammenhang zwischen Macht-durst und impotentia coeundi liegen. Marx war mir sympathisch, weil ich sicher war, daß er’s mit seiner Jenny fröhlich getrieben hat. Man spürt es am ruhigen Atem seiner Prosa und an seinem Humor. Aber einmal, in den Fluren der Universität, sagte ich, wenn man immer mit der Krupskaja ins Bett geht, schreibt man am Ende ein so scheußliches Buch 60
wie Materialismus und Empiriokritizismus. Sie schlugen mich fast zusammen und beschimpften mich als Faschisten. Am lautesten schrie ein großer Typ mit Tatarenschnauzer. Ich erinnere mich noch genau an ihn, heute ist er glattrasiert und gehört zu einer Kommune, in der sie Körbe flechten.
Ich evoziere das Klima von damals hier nur, um zu rekonstruieren, in welcher Geistesverfassung ich zu Garamond kam und mit Jacopo Belbo sympathisierte. Es war die Stimmung dessen, der sich die großen Diskurse über die Wahrheit vornimmt, um an ihnen zu lernen, wie man Fahnen korrigiert. Ich dachte, das Grundproblem bei einem Zitat wie »Ich bin, der ich bin« sei zu entscheiden, wohin der Schlußpunkt gehört, ob vor das Abführungszeichen oder danach.
Deshalb war meine politische Wahl die Philologie. Die Universität Mailand war in jenen Jahren beispielhaft. Während man im ganzen übrigen Land die Hörsäle stürmte, die Professoren attackierte und von ihnen verlangte, nur noch über proletarische Wissenschaft zu sprechen, galt bei uns, von ein paar Zwischenfällen abgesehen, eine Art konstitu-tioneller Pakt oder territorialer Kompromiß. Die Revolution beherrschte die äußere Zone, das Auditorium Maximum und die großen Flure im Erdgeschoß, während die offizielle Kultur sich auf die inneren Gänge und die oberen Stockwerke zurückgezogen hatte, um dort, geschützt und garantiert, weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre.
So konnte ich die Vormittage unten mit Diskussionen über proletarische Wissenschaft und die Nachmittage oben mit dem Erwerb eines aristokratischen Wissens verbringen. Ich lebte zufrieden in diesen beiden Paralleluniversen und fühl-te mich keineswegs gespalten. Auch ich glaubte damals, daß eine Gesellschaft der Gleichen vor der Tür stehe, aber ich sagte mir, daß in dieser neuen Gesellschaft bestimmte Dinge gut (und besser als vorher) funktionieren müßten, zum Beispiel die Züge, und die Sansculotten, die mich umgaben, lernten durchaus nicht, die Kohlen im Kessel zu dosieren, die Weichen zu stellen oder Fahrpläne auszutüfteln. Irgendwer mußte sich schließlich auch für die Züge bereithalten.
Nicht ohne ein paar Gewissensbisse fühlte ich mich wie ein Stalin, der unter seinem Schnauzbart grinst und denkt:
»Macht nur, macht nur, ihr armseligen Bolschewiken, ich 61
studiere derweilen am Seminar in Tiflis, und dann stelle ich den Fünfjahresplan auf.«
Vielleicht gerade weil ich vormittags im Enthusiasmus lebte, identifizierte ich dann am Nachmittag das Wissen mit Skepsis. Ich wollte etwas studieren, was mir erlauben wür-de, nur das zu sagen, was sich anhand von Dokumenten belegen ließ, um es von dem zu unterscheiden, was Sache des Glaubens blieb.
Fast zufällig geriet ich in ein Seminar über mittelalterliche Geschichte, schrieb mich ein und wählte eine Dissertation über den Templerprozeß. Die Geschichte der Tempelritter hatte mich fasziniert, seit ich einen Blick in die ersten Dokumente geworfen hatte. In jenen Jahren, als wir gegen die Staatsmacht kämpften, empörte mich die Geschichte jenes Prozesses (den als Indizienprozeß zu bezeichnen eine Ver-harmlosung ist), in dem die Templer zum Scheiterhaufen verurteilt wurden. Aber bald entdeckte ich, daß von dem Moment an, da sie verbrannt worden waren, eine Schar von Mysterienjägern anfing, überall
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