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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Conservatoire gestürmt hätte, die Meldung nicht mehr rechtzeitig für die Morgenblätter gekommen wäre.
    Außerdem hatte Paris an diesem Tag anderes im Kopf. Der Portier sagte es mir sofort, als ich zum Kaffeetrinken herunterkam. Die Stadt sei in Aufruhr, viele Metrostationen seien geschlossen, an einigen Stellen habe die Polizei gewaltsam gegen die Menge vorgehen müssen, die Studenten seien zu viele und manche gingen zu weit.
    Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Doktor Wagner.
    Ich probierte sie, aber natürlich war er am Sonntag nicht in seiner Praxis. Ich mußte sowieso erst ins Conservatoire, um mich zu vergewissern, und Sonntag nachmittags war es ja offen.
    Das Quartier Latin brodelte. Lärmende Gruppen mit Fahnen zogen vorbei. Auf der Ile de la Cité war eine Polizeisperre. In der Ferne hörte man Schüsse. So ähnlich mußte es Achtundsechzig gewesen sein. In Höhe der Sainte Chapelle hatte es Zoff gegeben, es roch nach Tränengas. Ich hörte Geschrei und Getrappel, es klang wie ein Angriff, ich wußte nicht, ob es Studenten waren oder die Flics, die Leute um mich herum fingen an zu rennen, wir flüchteten uns hinter eine Absper-rung mit einem Polizeikordon davor, während es auf der Straße zu Handgreiflichkeiten kam. Was für eine Schande: 728
    da war ich nun unter den bejahrten Bourgeois, die abwarte-ten, daß die Revolution sich legte!
    Dann war der Weg frei, ich ging durch Nebenstraßen im alten Hallenviertel, bis ich wieder zur Rue Saint-Martin gelangte. Das Conservatoire war geöffnet, friedlich stand es da mit seinem kleinen weißen Vorhof, an der Fassade die Pla-kette: »Le Conservatoire des Arts et Métiers, institué par décret de la Convention du 19 Vendémiaire An III... dans le bâtiment de l’ancien prieuré de Saint-Martin-des-Champs fondé au 11ème siècle.« Alles normal, mit einer kleinen sonntäglichen Menge, die sich im Eingang drängte, unbeeindruckt von der studentischen Kirmes.
    Ich trat ein — sonntags gratis —, und alles war wie am Nachmittag zuvor. Die Wärter, die Besucher, das Pendel an seinem gewohnten Ort... Ich suchte nach Spuren dessen, was geschehen war, aber wenn es geschehen war, hatte jemand gewissenhaft saubergemacht. Wenn es geschehen war.
    Ich weiß nicht mehr, wie ich den Rest des Nachmittags verbrachte. Ich weiß nicht mal mehr, was ich sah, als ich durch die Straßen irrte, immer wieder gezwungen, in Seitengassen abzubiegen, um Tumulten auszuweichen. Ich rief in Mailand an, nur um nichts unversucht zu lassen, wählte beschwörend, wie um das Unheil zu bannen, erst Belbos Nummer, dann die von Lorenza. Dann die des Verlags, wo um diese Zeit niemand sein konnte.
    Und dabei, wenn jetzt noch heute ist, war das alles erst gestern gewesen. Aber von vorgestern abend bis heute nacht ist eine Ewigkeit vergangen.
    Gegen Abend merkte ich, daß ich Hunger hatte. Ich wollte Ruhe, nur Ruhe und ein bißchen Komfort. Am Forum des Halles fand ich ein Restaurant, das mir Fisch versprach. Es bot dann sogar zuviel davon. Mein Tisch stand genau vor einem Aquarium. Eine hinreichend irreale Welt, um mich erneut in ein Klima des absoluten Argwohns zu stürzen.
    Nichts ist zufällig. Der Fisch da sieht aus wie ein asthmatischer Hesychast, der den Glauben verliert und Gott anklagt, den Sinn des Universums verringert zu haben. Oh, Herre Zebaoth, Zebaoth, wie kannst du nur so gemein sein, mich glauben zu machen, daß du nicht existierst? Wie ein Krebsgeschwür breitet das Fleisch sich über die Welt... Und jener 729
    andere Fisch da, der sieht aus wie Minnie, er klappert mit langen Wimpern und zieht eine herzförmige Schnute. Minnie ist die Verlobte von Mickymaus. Ich esse salade folle mit einer Scholle so zart wie Babyfleisch. Mit Honig und Pfeffer.
    Die Paulizianer sind unter uns. Der Fisch dort gleitet durch die Korallen wie das Flugzeug von Breguet — lange Flügelschläge wie ein Lepidopterus, hundert zu eins, daß er seinen Homunkulus-Fötus verlassen am Grund eines gläsernen Kolbens erspäht hat, in einem Athanor, der nun zerbrochen im Müll vor dem Haus von Nicolas Flamel liegt. Und dort drüben ein Templerfisch, ganz in Schwarz gepanzert, auf der Suche nach Noffo Dei. Er streift den asthmatischen Hes-ychasten, der gedankenverloren und grimmig dem Unsagbaren entgegenschwimmt. Ich wende den Blick ab, sehe durchs Fenster, und auf der anderen Straßenseite fällt mir das Schild eines anderen Restaurants ins Auge, CHEZ R...
    Rose-Croix? Reuchlin? Rosispergius?

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