Das Foucaultsche Pendel
Ecke der Place des Vosges. Ich gehe unter den Arkaden entlang. Was war das noch gleich für ein alter Film, in dem die einsamen Schritte des irren Messerstechers Mathias nachts über die Place des Vosges hallten? Ich bleibe stehen. Höre ich Schritte hinter mir? Na-türlich nicht, auch sie sind stehengeblieben. Ein paar Vitrinen würden genügen, um diese Arkaden in Säle des Conservatoire zu verwandeln.
Niedrige Renaissance-Decken, Rundbögen, Galerien für alte Stiche, Antiquitäten, Möbel. Place des Vosges, so ge-duckt mit den alten Portalen, rissig und abbröckelnd und leprös, hier gibt es Leute, die sich seit Jahrhunderten nicht fortbewegt haben. Leute mit gelben Kitteln. Ein Platz, wo nur Taxidermisten wohnen. Die gehen nur nachts aus. Die kennen den beweglichen Pflasterstein, den Schacht, durch den man in den Mundus Subterraneus eindringt. Vor aller Augen.
L‘Union de Recouvrement des Cotisations de sécurité so-ciale et d’allocations familiales de la Patellerie numéro 75, unité 1. Eine neue Tür, vielleicht leben hier reiche Leute, aber gleich daneben kommt eine alte Tür, abgeblättert wie ein Haus in der Via Sincero Renata, dann in Nummer 3 eine frisch renovierte Tür. Wechsel von Hylikern und Pneumatikern. Die Herren und ihre Knechte. Und hier ist mit Brettern zugenagelt, was einmal ein Torbogen gewesen sein muß.
Klar, hier war ein okkultistischer Buchladen, der jetzt nicht mehr da ist. Ein ganzer Block ist evakuiert worden. Über Nacht ausgezogen. Wie Agliè. Jetzt wissen sie, daß jemand Bescheid weiß, sie fangen an, ihre Spuren zu verwischen.
Ich bin am Eingang der Rue de Birague. Ich schaue zurück und sehe die Reihe der Arkaden, endlos, ohne eine lebende Seele, es wäre mir lieber, sie wäre dunkel, aber da ist das gelbe Licht der Laternen. Ich könnte laut schreien, und niemand würde mich hören. Lautlos hinter den geschlossenen Fenstern, aus denen kein Lichtstrahl dringt, würden die Ta-721
xidermisten grinsen in ihren gelben Kitteln.
Doch nein, auf dem Pflaster vor den Arkaden stehen parkende Autos, und gelegentlich huscht ein Schatten vorbei.
Was den Ort freilich nicht anheimelnder macht. Ein großer schwarzer Schäferhund läuft vor mir über die Straße. Ein schwarzer Hund allein in der Nacht? Und wo ist Faust? Vielleicht hat er den treuen Wagner losgeschickt, um mit dem Hund Gassi zu gehen.
Wagner. Das war der Gedanke, der mir dunkel im Kopf herumging. Doktor Wagner, der ist’s, den ich brauche. Er wird mir sagen können, ob ich deliriere, ob es Gespenster sind, die ich sehe. Er wird mir sagen können, daß nichts von alledem wahr ist, daß Belbo lebt und daß die Gruppe Tres nicht existiert. Welche Erleichterung, wenn ich krank wäre!
Ich verlasse den Platz fast rennend. Ein Auto folgt mir.
Nein, vielleicht sucht es nur einen Parkplatz. Ich stolpere über Müllsäcke aus Plastik. Das Auto hält und parkt ein. Es war nicht hinter mir her. Ich bin auf der Rue Saint-Antoine, halte Ausschau nach einem Taxi. Da kommt eins, wie herbei-beschworen.
»Sept, Avenue Elisée Reclus«, sage ich.
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Je voudrais être la tour, pendre à la Tour Eiffel. *
Blaise Cendrars
Ich wußte nicht, wo das war, und ich wagte nicht den Fahrer danach zu fragen, denn wer um diese Zeit ein Taxi nimmt, will entweder nach Hause oder ist mindestens ein Mörder. Im übrigen knurrte der Fahrer grimmig, das Zentrum sei immer noch ganz voll von diesen Studenten, überall parkende Busse, eine Sauerei sei das, wenn’s nach ihm ginge, gehörten sie alle an die Wand gestellt, auf jeden Fall sei es besser, im großen Bogen außen herum zu fahren. Er hatte Paris praktisch ganz umkreist, als er mich schließlich vor dem Haus Nummer sieben in einer einsamen Straße ab-setzte.
Es gab keinen Doktor Wagner in Nummer sieben. Dann war’s vielleicht die Nummer siebzehn? Oder siebenundzwanzig? Ich machte zwei, drei Versuche, dann überlegte ich: Selbst wenn ich das richtige Haus gefunden hätte, wollte ich etwa wirklich um diese Zeit den Doktor Wagner aus dem Bett klingeln, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Ich war aus demselben Grund hier gelandet, aus dem ich von der Porte Saint-Martin bis zur Place des Vosges geirrt war.
Ich war auf der Flucht. Und jetzt war ich von dem Ort geflohen, zu dem ich auf der Flucht aus dem Conservatoire geflohen war. Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, ich brauchte eine Zwangsjacke. Oder eine Schlafkur. Oder Lia. Daß sie meinen Kopf hielte, ihn fest zwischen ihre Brust
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