Das Foucaultsche Pendel
Einwohner werden geopfert. Mit dem restlichen Königreich von Jerusalem ist es vorbei. Die Templer sind wohlha-bender, zahlreicher und mächtiger denn je, doch im Heiligen Lande, das zu befreien sie sich einst aufgemacht hatten, im Heiligen Lande gibt es die Templer nicht mehr.
Sie leben glanzvoll begraben in ihren Komtureien überall in Europa und im Tempel zu Paris, und sie träumen noch 111
immer von der Esplanade des Tempels zu Jerusalem in den glorreichen Zeiten — die schöne Kirche Sankt Marien in La-teran, vollgestopft mit Votivkapellen und Siegestrophäen, umgeben von emsigen Schmiedewerkstätten, Sattlereien, Tuchwebereien und Kornspeichern, dazu ein Stall mit zweitausend Pferden, ein Gewimmel von Schildknappen, Adju-tanten, türkischen Söldnern, die weißen Mäntel mit roten Kreuzen, die braunen Kutten der Hilfskräfte, die Gesandten des Sultans mit großen Turbanen und vergoldeten Helmen, die Pilger, ein Hin und Her von schönen Reiterschwadronen und Kurieren, dazu die Pracht der vollen Tresore, der Hafen, aus dem Befehle und Dispositionen ausgingen, Ladungen für die Burgen des Mutterlandes, der Inseln, der Küsten Kleinasiens...
Vorbei, meine armen Templer, alles vorbei.
Mit einem Mal wurde mir bewußt, an jenem Abend in Pilades Bar, beim fünften Whisky, den Belbo mir förmlich auf-zwang, daß ich geträumt hatte, sentimental (welche Schande), aber laut, und daß ich eine wunderschöne Geschichte erzählt haben mußte, mit Leidenschaft und Mitgefühl, denn Dolores hatte glänzende Augen, und Diotallevi, der sich inzwischen sogar ein zweites Tonic Water geleistet hatte, drehte seraphisch die Augen zum Himmel, beziehungsweise zur keineswegs sefirothischen Decke der Bar, und murmelte:
»Vielleicht waren sie alles das zugleich: verlorene und geret-tete Seelen, Roßknechte und Ritter, Bankiers und Recken...«
»Gewiß waren sie einzigartig«, lautete Belbos Urteil. »Aber sagen Sie, Casaubon, mögen Sie sie?«
»Ich promoviere über sie, und wer über die Syphilis promoviert, mag am Ende sogar die bleichen Spirochäten.«
»Ach, schön wie ein Film war das«, seufzte das Mädchen Dolores. »Aber jetzt muß ich gehen, tut mir leid, ich muß noch Flugblätter für morgen abziehen. Bei Marelli wird ge-streikt«
»Sei froh, daß du dir das erlauben kannst«, sagte Belbo, hob müde eine Hand und strich ihr übers Haar.
Dann bestellte er den, wie er sagte, letzten Whisky und bemerkte: »Es ist fast Mitternacht. Ich denke dabei nicht an die gewöhnlichen Sterblichen, aber an Diotallevi. Trotzdem, beenden wir die Geschichte, ich möchte noch wissen, was es 112
mit dem Prozeß auf sich hatte. Wann, wie, warum...«
»Cur, quomodo, quando«, stimmte Diotallevi zu. »Ja ja!«
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Er sagte aus, er habe am Abend zuvor mit eige-
nen Augen gesehen, wie vierundfünfzig Brüder
besagten Ordens auf einem Karren zum Scheiter-
haufen geführt worden seien, weil sie die oben-
genannten errores nicht hätten gestehen wollen, und er habe sagen hören, sie seien verbrannt worden, und er selber würde, weil er fürchte, daß er nicht gut standzuhalten vermochte, so man ihn
verbrennte, aus Angst vor dem Tode gestehen
und auch beeiden, vor den genannten Herren
Kommissaren und vor einem jedem beliebigen
andern, so man ihn verhörte, daß alle dem Orden vorgeworfenen errores wahr seien, und daß er,
so man es von ihm verlangte, sogar gestehen
würde, unseren lieben Herrn Jesum Christum
umgebracht zu haben.
Aussage des Templers Aimery de Villiers-le-Duc am 13.5.1310
Ein Prozeß voller Lücken, Widersprüche, Rätsel und Dummheiten. Die Dummheiten waren am auffälligsten, und da sie mir unerklärlich waren, warf ich sie mit den Rätseln zusammen. In jenen glücklichen Studientagen glaubte ich noch, daß die Dummheit Rätsel erzeuge. Vorgestern abend im Periskop dachte ich, daß die schrecklichsten Rätsel, um nicht als solche erkannt zu werden, sich als Verrücktheit tarnen. Heute denke ich, daß die Welt ein gutartiges Rätsel ist, das unsere Verrücktheit schrecklich macht, weil sie sich anmaßt, es nach ihrer Wahrheit zu deuten.
Die Templer hatten kein Ziel mehr. Oder besser gesagt, sie hatten die Mittel zum Zweck gemacht, sie verwalteten ihren immensen Reichtum. Kein Wunder, daß ein auf Zentralisie-rung erpichter Monarch wie Philipp der Schöne sie scheel ansah. Wie ließ sich ein souveräner Orden unter Kontrolle halten? Der Großmeister hatte den Rang eines Fürsten von 114
Geblüt, er befehligte
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