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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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sich errichtet, indem sie sich ausdehnt aus dem ursprünglichen Punkt. Wenn Chochmah die Quelle ist, so ist Binah der Fluß, der ihr entspringt, um sich dann zu teilen in seine vielerlei Arme, bis alle sich schließlich ins große Meer der letzten Sefirah ergießen — und in Binah sind alle Formen schon vorgeformt.
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    Chessed
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    Die Analogie der Gegensätze ist das Verhältnis
    von Licht und Schatten, Gipfel und Abgrund,
    Fülle und Leere. Die Allegorie, Mutter aller Dogmen, ist die Substitution des Stempels durch den Abdruck, der Wirklichkeit durch die Schatten,
    sie ist die Lüge der Wahrheit und die Wahrheit
    der Lüge.
    Eliphas Lévi , Dogme de la haute magie, Paris, Baillère, 1856, XXII, 22
    Ich war aus Liebe zu Amparo nach Brasilien gekommen und war aus Liebe zum Land dort geblieben. Ich habe nie begriffen, wieso diese Nachfahrin holländischer Einwande-rer, die sich in Recife angesiedelt und dort mit Indios und Schwarzen aus dem Sudan vermischt hatten, wieso diese stolze junge Frau mit dem Gesicht einer Jamaikanerin und der Kultur einer Pariserin einen spanischen Namen hatte, noch dazu einen, der in nichtspanischen Ohren männlich klang. Ich habe nie die Ratio der brasilianischen Namen verstanden. Sie sprechen allen Namenslexika hohn, und sie existieren nur dort.
    Amparo sagte mir, daß in ihrer Hemisphäre, wenn man das Wasser im Waschbecken ablaufen lasse, der kleine Strudel am Ende, wenn der letzte Rest weggurgelt, von rechts nach links gehe, während es bei uns andersherum sei —
    oder umgekehrt. Ich habe nicht nachprüfen können, ob das stimmt. Nicht nur weil in unserer Hemisphäre niemand nachgeschaut hat, wie herum das Wasser weggurgelt, sondern auch weil ich nach diversen Experimenten in Brasilien feststellen mußte, daß die Sache sehr schwer zu begreifen ist.
    Der Strudel vergurgelt zu schnell, als daß man ihm folgen kann, und vermutlich ist seine Richtung abhängig von der Stärke und Neigung des Strahls, aber auch von der Form des Beckens oder der Wanne. Und schließlich, wenn Amparo recht hätte, wie müßte es dann am Äquator sein? Läuft das 192
    Wasser dort senkrecht ab, ohne Strudel, oder läuft es am Ende gar nicht ab?
    Damals sah ich das Problem nicht allzu dramatisch, aber vorgestern abend im Periskop dachte ich, daß letztlich alles von den tellurischen Strömen abhängt und daß ihr Geheimnis im Pendel verborgen ist.
    Amparo war fest in ihrem Glauben. »Was empirisch zu sehen ist, spielt keine Rolle«, sagte sie, »es handelt sich um ein Idealprinzip, das nur unter Idealbedingungen verifiziert werden kann, also nie. Aber es ist wahr.«
    In Mailand war sie mir begehrenswert erschienen wegen ihrer nüchternen, coolen Art. Dort unten, im Kontakt mit den Säuren ihres heimischen Bodens, wurde sie schwerer definierbar, luzide visionär und fähig zu unterirdischer Rationalität. Ich fühlte, wie sich archaische Leidenschaften in ihr regten, die sie wachsam zu zügeln suchte, pathetisch in ihrem Asketentum, das ihr gebot, der Verführung zu widerstehen.
    Am besten ermaß ich ihre herrlichen Widersprüche, wenn ich sie beim Diskutieren mit ihren Genossen sah. Es waren Versammlungen in verwahrlosten Wohnungen, dekoriert mit wenigen Postern und vielen folkloristischen Gegenständen, Porträts von Lenin und Tonfiguren aus dem Sertão, die den Cangaceiro feierten, oder indianische Fetische. Ich war in einem politisch nicht sehr klaren Moment gekommen und hatte nach der Erfahrung zu Hause beschlossen, mich von den Ideologien fernzuhalten, zumal dort unten, wo ich sie nicht kapierte. Die Reden von Amparos Genossen vergrö-
    ßerten meine Unsicherheit, aber sie weckten auch meine Neugier. Natürlich waren alle Marxisten, und auf den ersten Blick redeten sie fast wie europäische Marxisten, aber sie sprachen von etwas anderem, und plötzlich, während einer Diskussion über den Klassenkampf, konnten sie vom »brasilianischen Kannibalismus« sprechen oder von der revolutionären Rolle der afro-brasilianischen Kulte.
    Es waren genau diese Reden, die mich zu der Überzeugung brachten, daß dort unten auch der ideologische Strudel andersherum läuft. Sie zeichneten mir ein Panorama innerer Pendel-Migrationen, mit den Entrechteten und Verhungern-den aus dem Norden, die in den industrialisierten Süden zogen, sich in riesigen Metropolen subproletarisierten, er-193
    stickt von Smogwolken, bis sie nach einer Weile verzweifelt in den Norden zurückgingen, um ein Jahr später erneut in den

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