Das Foucaultsche Pendel
Parallaxe 17, Euklid X. Kaum hatte dann Achtundsechzig begonnen, machte er Ausstellungen in besetzten Häusern, er hatte die Farbpalette ein wenig geändert, jetzt waren es scharfe Schwarz-Weiß-Kontraste, nicht mehr ganz so kleinteilig, und die Titel lauteten C’est n’est qu’un début, Molotow oder Hundert Blumen. Als ich aus Brasilien zurückkam, hatte ich ihn in einem Zirkel ausstellen sehen, wo man den Doktor Wagner verehrte. Er hatte das Schwarz eliminiert und arbeitete nur noch mit weißen Strukturen, in denen sich die Kontraste lediglich durch die Dicke des Farbauftrags auf einem porösen Büttenpapier ergaben, so daß die Bilder, wie er erklärte, verschiedene Profile je nach dem Lichteinfall produzierten. Sie hießen jetzt Eloge der Ambiguität, A/Traverso, Ça, Bergstraße und Denegation 15.
Als ich an jenem Abend in die neue Galerie kam, sah ich sofort, daß Riccardos Kunstbegriff eine tief greifende Evolution durchgemacht hatte. Die Ausstellung nannte sich Megale Apophasis. Riccardo war zum Figurativen übergegangen, mit einer leuchtenden Farbenpalette. Er spielte mit Zitaten, und da er, glaube ich, nicht zeichnen konnte, arbeitete er vermutlich mit Diaprojektionen berühmter Gemälde — die Auswahl bewegte sich zwischen Fin-de-siecle-Naturalisten und Symbolisten der frühen Moderne. Die Linien der originalen Zeichnung zog er dann mit einer Punktierungstechnik in feinsten Farbabstufungen nach, wobei er Punkt für Punkt das ganze Spektrum durchging, so daß er jedes Mal mit einem flammend leuchtenden Kern begann und im absoluten Schwarz endete — oder umgekehrt, je nach dem mystischen oder kosmologischen Konzept, das er ausdrücken wollte. Es gab Gebirge, die Lichtstrahlen aussandten, zerlegt in eine Wolke zart pastellfarbener Kügelchen, man ahnte konzentrische Himmel, bevölkert von angedeuteten Engeln mit transparenten Flügeln, ähnlich dem Paradies von Doré. Die Titel lauteten Beatrix, Mystica Rosa, Dante Gabriele 33, Fedeli d'Amore, Athanòr, Homunculus 666 — aha, dachte ich, daher Lorenzas Leidenschaft für die Homunculi. Das größte Bild hieß Sophia und zeigte eine Art Engelsturz mit schwarzen Engeln, der unten zerlief und eine weiße Kreatur erzeugte, die von großen fahlgrauen Händen gestreichelt wurde, ein Abklatsch der beiden Hände, die sich in den Himmel von Guernica recken. Die Mischung war dubios, und aus der Nähe sah man, daß die Ausführung ziemlich roh war, aber aus zwei bis drei Metern Entfernung war der Effekt sehr lyrisch.
»Ich bin ein Realist alter Schule«, flüsterte Belbo mir zu, »ich kapiere nur Mondrian. Was soll ein nichtgeometrisches Bild darstellen?«
»Früher war er geometrisch«, sagte ich.
»Das war keine Geometrie. Das war Fliesendekoration für Badezimmer.«
Inzwischen war Lorenza zu Riccardo gelaufen, um ihn zu umarmen, und er und Belbo hatten sich einen Gruß zugewinkt. Es war knallvoll, die Galerie präsentierte sich wie ein Loft in New York, rundum weißgekalkt, die Heizungs- oder Wasserrohre nackt an der Decke. Musste einen Haufen gekostet haben, sie so roh herzurichten. Eine Stereoanlage in einer Ecke betäubte die Anwesenden mit orientalischer Musik, so etwas mit Sitar, wenn ich mich recht erinnere, die Sorte, bei der man die Melodie nicht erkennt. Alle gingen achtlos an den Bildern vorbei, um sich am Büffet im hinteren Teil zu versammeln und sich einen Pappbecher zu sichern. Wir waren zu vorgerückter Stunde gekommen, die Luft war voller Rauchschwaden, ab und zu deuteten ein paar Mädchen in der Mitte des Saales Tanzschritte an, aber alle waren noch damit beschäftigt zu plaudern und das Büffet zu plündern, das tatsächlich sehr reichhaltig war. Ich setzte mich auf ein Sofa, neben dem eine große, noch halb volle Schüssel mit Obstsalat auf dem Boden stand. Ich wollte mir gerade etwas davon nehmen, denn ich hatte noch nichts gegessen, da schien mir, als entdeckte ich darin den Abdruck eines Fußes, der die Fruchtwürfel in der Mitte zusammengepresst und zu einem homogenen Brei vermanscht hatte. Das war nicht unmöglich, denn der Boden war inzwischen glitschig von Weißweinpfützen, und manche der Eingeladenen bewegten sich schon etwas mühsam.
Belbo hatte sich einen Becher geschnappt und ging träge, scheinbar ziellos umher, mal diesem, mal jenem auf die Schulter tippend. Er suchte nach Lorenza.
Aber nur wenige standen still. Die Menge befand sich in einer zirkulären Bewegung, wie ein Bienenschwarm, der nach einer noch unbekannten
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