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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Schritt zu tun, schon änderte sich die Form der Bildschirme und die Mondsichel war nicht mehr da, hatte sich irgendwo zwischen den metallenen Rippen verfangen, das Tier hatte sie verschluckt, verdaut, in einer anderen Dimension aufgehen lassen.
    Tesserakt. Vierdimensionaler Kubus. Jetzt sah ich durch einen Bogen ein blinkendes Licht, nein zwei, ein rotes und ein weißes, sicher ein Flugzeug auf dem Weg nach Roissy oder Orly, was weiß ich. Aber gleich darauf — hatte ich mich bewegt, oder das Flugzeug, oder der Turm? — waren die Lichter hinter einer Rippe verschwunden, ich wartete, um sie im nächsten Rahmen wieder auftauchen zu sehen, und sie blieben verschwunden. Der Turm hatte hundert Fenster, die alle beweglich waren, und jedes ging auf ein anderes Segment der Raum-Zeit. Seine Rippen formten keine euklidischen Kurven, sie zerrissen das Gewebe des Kosmos, verkehrten Katastrophen, blätterten Seiten paralleler Welten um.
    Wer hatte gesagt, dass diese Nadel-Fiale von Notre-Dame de la Brocante dazu diene, Paris am Plafond des Universums aufzuhängen, »suspendre Paris au plafond de l'univers«? Im Gegenteil, der Eiffelturm lässt das Universum an seiner Spitze schweben — natürlich, schließlich ist er das Gegenstück zum Pendel!
    Wie hatte man ihn genannt? Einsames Suppositorium, hohler Obelisk, Triumph des Eisendrahtes, Apotheose des Pfeilers, luftiger Götzenaltar, Biene im Herzen der Windrose, trist wie eine Ruine, hässlicher nachtfarbener Koloss, missgestaltes Symbol einer nutzlosen Kraft, absurdes Wunder, sinnlose Pyramide, Gitarre, Tintenfass, Teleskop, langatmig wie eine Ministerrede, antiker Gott und moderne Bestie... Dies alles und andres war er, und wenn ich den sechsten Sinn der Herren der Welt gehabt hätte, so hätte ich, nun, da ich eingebunden war in seine polypenverkrusteten Stimmbänder, ihn heiser die Sphärenmusik wispern hören, der Turm war in diesem Moment dabei, Wellen aus der hohlen Erde zu saugen und sie an alle Menhire der Welt auszusenden. Rhizom vernagelter Gelenke, zervikale Arthrose, Prothese einer Prothese — was für ein Horror, von da, wo ich war, hätten sie, um mich in den Abgrund zu schmettern, mich zur Spitze hinaufschleudern müssen. Sicher kam ich gerade von einer Reise durchs Zentrum der Erde zurück, ich schwankte noch im antigravitationalen Taumel der Antipoden.
    Nein, wir hatten nicht fantasiert, der Turm erschien mir jetzt als der unheimliche Beweis für die Wahrheit des Großen Plans, aber bald würde er merken, dass ich der Spion war, der Feind, das Sandkorn in dem Getriebe, dessen Abbild und Motor er war, und dann würde er unmerklich eine Raute seiner bleiernen Klöppelspitzen nach unten verlängern und mich aufschlucken, ich würde in einer Falte seines Nichts verschwinden wie vorhin das Flugzeug, transferiert in ein Anderswo.
    Wäre ich nur noch ein wenig länger da unter seiner durchbrochenen Wölbung geblieben, seine großen Krallen hätten sich zusammengezogen, hätten sich wie Klauen um mich gebogen und mich zermalmt, und dann hätte das Tier wieder seine übliche tückische Position eingenommen: als ein mörderischer und sinistrer Bleistiftanspitzer.
    Noch ein Flugzeug. Diesmal kam es von nirgendwoher, der Turm hatte es zwischen seinen fleischlosen mastodontischen Wirbeln erzeugt. Ich betrachtete ihn, er nahm kein Ende, wie das Projekt, für das er geboren war. Wenn ich geblieben wäre, ohne verschlungen zu werden, hätte ich seine Veränderungen verfolgen können, seine langsamen Umdrehungen, seine infinitesimalen De-und Rekompositionen unter dem kalten Anhauch der Strömungen, vielleicht verstanden die Herren der Welt ihn als eine geomantische Zeichnung zu deuten, in seinen unmerklichen Metamorphosen hätten sie eindeutige Signale gelesen, unnennbare Aufträge. Der Turm drehte sich über mir wie ein Schraubenzieher des Mystischen Pols. Oder nein, er stand unbeweglich da wie ein magnetisierter Zapfen und ließ das Himmelsgewölbe um sich rotieren. Das Schwindelgefühl war dasselbe.
    Wie gut der Turm sich zu tarnen weiß, sagte ich mir: Aus der Ferne winkt er dir freundlich zu, aber wenn du dich ihm näherst und in sein Geheimnis einzudringen versuchst, tötet er dich, er lässt deine Knochen gefrieren, einfach indem er den sinnlosen Horror vorzeigt, aus dem er gemacht ist. Jetzt weiß ich, dass Belbo tot ist und dass der Große Plan wahr ist, denn wirklich und wahr ist der Turm. Wenn es mir nicht gelingt zu fliehen, noch einmal zu fliehen, kann ich es

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