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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Elisée Reclus«, sage ich.

116
    Je voudrais être la tour, pendre à la Tour Eiffel.
    (Ich möchte der Turm sein, am Eiffelturm hängen.)
    Blaise Cendrars
     
    Ich wusste nicht, wo das war, und ich wagte nicht den Fahrer danach zu fragen, denn wer um diese Zeit ein Taxi nimmt, will entweder nach Hause oder ist mindestens ein Mörder. Im übrigen knurrte der Fahrer grimmig, das Zentrum sei immer noch ganz voll von diesen Studenten, überall parkende Busse, eine Sauerei sei das, wenn's nach ihm ginge, gehörten sie alle an die Wand gestellt, auf jeden Fall sei es besser, im großen Bogen außen herum zu fahren. Er hatte Paris praktisch ganz umkreist, als er mich schließlich vor dem Haus Nummer sieben in einer einsamen Straße absetzte.
    Es gab keinen Doktor Wagner in Nummer sieben. Dann war's vielleicht die Nummer siebzehn? Oder siebenundzwanzig? Ich machte zwei, drei Versuche, dann überlegte ich: Selbst wenn ich das richtige Haus gefunden hätte, wollte ich etwa wirklich um diese Zeit den Doktor Wagner aus dem Bett klingeln, um ihm meine Geschichte zu erzählen? Ich war aus demselben Grund hier gelandet, aus dem ich von der Porte Saint-Martin bis zur Place des Vosges geirrt war. Ich war auf der Flucht. Und jetzt war ich von dem Ort geflohen, zu dem ich auf der Flucht aus dem Conservatoire geflohen war. Ich brauchte keinen Psychoanalytiker, ich brauchte eine Zwangsjacke. Oder eine Schlafkur. Oder Lia. Daß sie meinen Kopf hielte, ihn fest zwischen ihre Brust und ihre Achsel drückte und leise sagte, ich solle ruhig sein.
    Hatte ich überhaupt zu Doktor Wagner gewollt, oder war das, was ich suchte, nicht eher die Avenue Elisée Reclus gewesen? Denn jetzt erinnerte ich mich: auf den Namen war ich im Zuge meiner Lektüre für den Großen Plan gestoßen, es war jemand, der im vorigen Jahrhundert ich weiß nicht mehr welches Buch über die Erde geschrieben hatte, über den Untergrund und die Vulkane, jemand, der unter dem Vorwand, wissenschaftliche Geografie zu betreiben, die Nase in den Mundus Subterraneus gesteckt hatte. Einer von ihnen also. Ich war auf der Flucht vor ihnen und fand mich doch ständig von ihnen umgeben. Stück für Stück hatten sie im Laufe von wenigen hundert Jahren ganz Paris besetzt. Und den Rest der Welt.
    Ich musste zurück ins Hotel. Würde ich hier noch ein Taxi finden? Womöglich war ich jetzt irgendwo draußen in der Banlieue. Ich ging in die Richtung, in der ich den Nachthimmel etwas heller und offener sah. Die Seine?
    Und da, als ich an die Ecke kam, sah ich ihn.
    Links von mir. Ich hätte mir denken können, dass er da war, dass er da irgendwo in der Nähe lauerte, in dieser Stadt enthalten die Straßennamen unverkennbare Botschaften, man wird immer vorgewarnt, mein Pech, dass ich nicht darauf geachtet hatte.
    Da stand er, der metallene Riesenmenhir auf den Beinen einer grässlichen eisernen Spinne, das Symbol und Instrument ihrer Macht! Ich hätte fliehen sollen, statt dessen zog es mich zu dem Gitternetz hin, ich hob und senkte den Kopf, denn aus dieser Nähe konnte ich das Monster nicht mehr mit einem einzigen Blick erfassen, ich war praktisch innen drin, zersäbelt von seinen tausend scharfen Kanten, ich fühlte mich bombardiert von Drahtnetzen, die allseits herunterfielen, hätte das Riesentier sich nur ein kleines bisschen bewegt, es hätte mich zerquetschen können mit einer seiner Meccano-Pranken.
    Der Eiffelturm. Ich war an dem einzigen Punkt der Stadt, an dem man ihn nicht von weitem sieht, im Profil, wie er sich freundlich über das Meer der Dächer erhebt, leicht wie auf einem Bild von Dufy. Er ragte direkt vor mir auf, er schwebte über mir. Ich erahnte seine Spitze, aber nachdem ich ihn einmal umkreist hatte, trat ich unter ihn, zwischen die Beine, und sah die Strumpfbänder, den Bauch, die Genitalien, erahnte die verschlungenen Gedärme, die sich schwindelerregend nach oben mit der Speiseröhre vereinten in seinem polytechnischen Giraffenhals. Perforiert wie er war, hatte er die Macht, das Licht ringsum zu verdunkeln, und je nachdem, wie ich mich bewegte, bot er mir in verschiedenen Perspektiven verschiedene Rautenformen als Rahmen für Zooms in die Dunkelheit.
    Rechts war jetzt im Nordosten, noch niedrig über dem Horizont, eine Mondsichel aufgegangen. Manchmal rahmte der Turm sie mir ein, so dass sie aussah wie eine optische Täuschung, ein fluoreszierender Lichtreflex auf einem der rautenförmigen Bildschirme, die sein Gitterwerk bildete, aber ich brauchte bloß einen

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