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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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den Kampf. Der nicht stattfand.
    Als sich die beiden Gruppen bis auf ein paar Meter genähert hatten, machten sie halt und standen sich zähnefletschend gegenüber. Die Anführer traten vor und verhandelten. Es war ein Jalta, sie beschlossen, sich die Einflusszonen zu teilen und gelegentliche Transite zu dulden, wie einst die Christen und Moslems im Heiligen Land. Die Solidarität zwischen den beiden Ritterheeren obsiegte (ist das ein Gallizismus?) über die Unausweichlichkeit der Entscheidungsschlacht. Jeder hatte eine schöne Mutprobe abgelegt. In schöner Eintracht zogen sie sich auf gegnerische Seiten zurück. In schöner Eintracht zogen die Gegner sich auf entgegengesetzte Seiten zurück. Sie gingen einträchtig auseinander.
    Heute sage ich mir, dass ich damals stehen geblieben war, weil ich lachen musste. Aber damals sagte ich mir das nicht. Ich fühlte mich einfach nur feige.
    Heute sage ich mir, noch feiger, wenn ich damals weitergelaufen wäre, hätte ich nichts riskiert und in den folgenden Jahren besser gelebt. Ich habe die GELEGENHEIT verpasst, mit zwölf Jahren. Und das ist, wie wenn man beim ersten Mal keine Erektion hat: man bleibt impotent fürs ganze Leben.
    Einen Monat danach, als die Viottolos und die Canalettos sich aufgrund einer zufälligen Grenzverletzung unversehens auf offenem Feld gegenüberstanden und Erdklumpen aufeinander zu schmeißen begannen, trat ich, vielleicht beruhigt durch den Verlauf der letzten Begegnung, vielleicht auch begierig auf Märtyrertum, in die erste Reihe vor. Es war ein unblutiger Zusammenstoß, außer für mich. Einer der Erdklumpen, der offenkundig ein Herz von Stein in sich barg, traf mich an der Lippe und spaltete sie. Ich floh, rannte heulend nach Hause, und meine Mutter musste lange mit einer Pinzette herumpulen, um mir die Krümel aus der Wunde zu holen, die sich innen im Mund gebildet hatte. Tatsache ist, dass ich noch heute ein kleines Knötchen vorn im Mund habe, unter dem rechten unteren Eckzahn, und wenn ich mit der Zunge drüberfahre, spüre ich ein Vibrieren, ein leichtes Erschauern.
    Aber dieses Knötchen erteilt mir keine Absolution, denn ich habe es mir aus Versehen zugezogen, nicht aus Mut. Ich fahre mit der Zunge drüber, und was tue ich? Ich schreibe. Aber schlechte Literatur erlöst nicht.
     
    Nach jener Demonstration sah ich Belbo etwa ein Jahr lang nicht mehr. Ich hatte mich in Amparo verliebt und ging nicht mehr zu Pilade, beziehungsweise die wenigen Male, wenn ich mit Amparo auf einen Sprung hineingeschaut hatte, war Belbo nicht da gewesen. Und Amparo mochte das Lokal nicht. Ihr moralischer und politischer Rigorismus — vergleichbar nur ihrer Anmut und ihrem herrlichen Stolz — ließ sie Pilade als einen Club für demokratische Dandys empfinden, und den demokratischen Dandyismus betrachtete sie als ein Element, das subtilste, des kapitalistischen Herrschaftsgefüges. Es war ein Jahr voller Engagement, in großem Ernst und großer Freude. Ich arbeitete lustvoll, aber in Ruhe an meiner Dissertation.
    Eines Tages traf ich Belbo auf der Straße, nur wenige Schritte vor seinem Büro. »Hallo, sieh da«, rief er freudig, »mein Lieblingstempler! Gerade hat mir jemand ein Destillat von unsäglichem Alter geschenkt. Wie wär's, wollen Sie nicht auf einen Sprung mit raufkommen? Ich habe Pappbecher und den Nachmittag frei.«
    »Das ist ein Zeugma«, bemerkte ich.
    »Nein, ein Bourbon, ich glaube aus der Zeit vor dem Fall von Alamo.«
    Ich ging mit hinauf. Aber kaum hatten wir einen Schluck probiert, kam Gudrun herein und sagte, da wäre ein Herr. Belbo schlug sich mit der Hand an die Stirn. Er habe diese Verabredung ganz vergessen, sagte er, aber die Sache rieche nach einer Verschwörung. Soweit ich begriff, wollte der Typ ihm ein Buch präsentieren, in dem es auch um die Templer ging. »Ich werde ihn gleich abwimmeln«, meinte Belbo. »Aber helfen Sie mir mit scharfsinnigen Bemerkungen.«
    Es war bestimmt nur ein Zufall gewesen. Und so ging ich ins Netz.

17
    So verschwanden die Tempelritter mit ihrem Geheimnis, in dessen Schatten eine schöne Hoffnung auf die irdische Stadt pulsierte. Aber das Abstraktum, an das ihr Bemühen gekettet war, setzte sein unerreichbares Leben in unbekannten Regionen fort... und mehr als einmal im Laufe der Zeiten ließ es seine Inspiration in die Geister derer fließen, die sie aufzunehmen vermochten.
    Victor Emile Michelet, Le secret de la Chevalerie, 1930, 2
     
    Er hatte ein Gesicht wie aus den vierziger Jahren.

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