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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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abends um sechs die Schülerinnen aus dem Internat Maria Ausiliatrice herunterkamen. Nun ging es darum, die Burschen von der Decima (die kaum älter als achtzehn sein konnten) zu überreden, ein paar deutsche Handgranaten zu bündeln, solche mit langem Stiel, und sie dann so zu werfen, dass sie auf dem Wasser explodierten, genau in dem Moment, wenn die Mädchen kamen. Martinetti wusste präzis, was zu tun war und wie man die Zeiten kalkulierte. Er erklärte es den Schwarzhemden, und der Effekt war enorm: eine Fontäne schoss hoch aus dem Bachbett mit Donnergetöse, genau als die Mädchen um die Ecke bogen. Allgemeine Flucht mit großem Gekreische, und wir und die Schwarzhemden lachten uns tot. An jene glorreichen Tage hätten sich — nach dem Feuertod von Molay — noch die Überlebenden von Salò erinnert.
    Hauptsport der Viottolos war, Patronenhülsen und andere Kriegsüberbleibsel zu sammeln, woran nach dem 8. September kein Mangel war, zum Beispiel alte Stahlhelme, Patronengürtel und Proviantbeutel, manchmal auch noch intakte Patronen. Um eine intakte Patrone zu benutzen, ging man so vor: man nahm sie vorsichtig in die Hand, führte sie in ein Türschloss ein und drehte sie fest; dann ließ das Geschoss sich herausschrauben und kam in die Spezialsammlung. Die Hülse wurde vom Pulver entleert (manchmal enthielt sie auch ein Material in Form dünner Schnüre), das dann in Serpentinen ausgelegt und abgebrannt wurde. Die Hülse, die um so mehr galt, wenn die Kapsel noch intakt war, kam als Neuzugang in die Armee. Ein guter Sammler hatte viele davon, die er wie Zinnsoldaten aufstellte, sortiert nach Fabrikat, Farbe, Form und Größe. Da gab es die einfachen Fußsoldaten — die Hülsen der italienischen MP und der englischen Sten —, dann die Bannerträger und Ritter — Moschetto-Karabiner, Sturmgewehr 91 (das Garand sahen wir erst bei den Amerikanern) — und schließlich, die begehrteste Trophäe, als hoch aufragende Großmeister die MG-Hülsen.
    Während wir uns diesen Friedensspielen hingaben, eröffnete Martinetti uns eines Tages, dass der Moment gekommen sei. Die Duellforderung sei der Canalettobande zugestellt worden, und sie habe den Fehdehandschuh aufgenommen. Der Kampf werde auf neutralem Boden stattfinden, hinterm Bahnhof. Heute Abend um neun.
    Es war ein sommerlicher Spätnachmittag, schwülwarm und voller Erregung. Jeder von uns rüstete sich mit den fürchterlichsten Paraphernalien, schnitzte sich Knüppel, die gut in der Hand lagen, füllte sich die Patronen- und Provianttaschen mit Steinen in verschiedener Größe. Einer hatte sich aus dem Riemen eines Karabiners eine Peitsche gemacht, eine schreckliche Waffe, wenn sie entschlossen gehandhabt wurde. Zumindest in jenen Abendstunden fühlten wir uns allesamt als Helden, ich besonders. Es war die Erregung vor dem Angriff, stechend, schmerzlich, wunderbar — leb wohl, meine Schöne, leb wohl, hart und süß ist das Los des Kriegers, wir schickten uns an, unsere Jugend zu opfern, wie man es uns vor dem 8. September in der Schule gelehrt hatte.
    Martinettis Plan war raffiniert ausgedacht: wir würden den Bahndamm weiter nördlich überqueren, um sie von hinten zu fassen, unerwartet, praktisch bereits als Sieger. Dann drauf mit Gebrüll und keine Gnade.
    Bei Einbruch der Dämmerung kletterten wir wie geplant die steile Böschung hinauf, schwer beladen mit Steinen und Knüppeln. Oben angelangt, sahen wir sie schon hinter dem Bahnhofsklo stehen. Sie erblickten uns sofort, da sie genau in unsere Richtung spähten. So blieb uns nichts anderes übrig, als möglichst schnell runterzulaufen, ohne ihnen Zeit zu lassen, sich lange über die Evidenz unserer Taktik zu wundern.
    Niemand hatte uns vor dem Angriff mit Feuerwasser versorgt, aber wir stürmten trotzdem voran mit Gebrüll. Dann, etwa hundert Meter vorm Bahnhof, geschah es. Dort standen die ersten Häuser des Dorfes, und obwohl es nur wenige waren, bildeten sie doch schon ein kleines Gassengewirr. Es geschah, dass die kühnste Gruppe sich furchtlos auf die Feinde stürzte, während ich und — zu meinem Glück — ein paar andere die Gangart verlangsamten und hinter den Ecken der Häuser stehen blieben, um aus der Ferne zuzusehen.
    Hätte uns Martinetti in Vor- und Nachhut eingeteilt, wir hätten nur unsere Pflicht getan, aber so war's eine Art von spontaner Aufteilung. Die Mutigen vorn, die Feigen hinten. Und aus unserem Schlupfwinkel, ich noch ein Stückchen weiter hinter den andern, beobachteten wir

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