Das fremde Haus
stellte die nächste Frage, ohne genau zu wissen, was er damit meinte. »Haben Sie Herrn und Frau Nacht und Herrn und Frau Tag mal zusammen gesehen?« Er konnte nicht gleichzeitig denken und mit dem alten Mann sprechen, nicht richtig jedenfalls. Er musste einfach hoffen, dass seine Instinkte ihn in die richtige Richtung lenkten.
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, nein, habe ich nicht. Nachtmann und Nachtfrau sind abends da, wie ich schon sagte …«
»Was ist mit den Wochenenden?«, fragte Simon.
»Am Wochenende bin ich bei meiner Tochter in Horseheath. Sie bringt mich sonntags um zehn Uhr abends zurück, sodass mir genug Zeit bleibt, auszupacken und um elf am Schreibtisch zu sitzen.«
Womit sie wieder bei der Zahl elf angelangt waren.
»Fällt Ihnen noch irgendwas ein?«, fragte Simon.
»Ja. In allen Behausungen mit einer Population von mehr als eins gibt es Hierarchien, und das Haus gegenüber bildet da keine Ausnahme. Ich würde die Vermutung wagen, dass es dem Nachtmann und der Nachtfrau gehört. Sie und ihre Kinder stehen in der Rangordnung oben.«
»Warum denken Sie das?« Kein Mensch, den Simon kannte, hätte Vorhänge für ein Haus gekauft, das jemand anderem gehörte.
»Wegen der Park-Arrangements.« Der Professor lächelte. »Nachtmann und Nachtfrau stellen ihre Autos in der Garage ab. Tagmann und Tagfrau parken auf der Straße. Auf der Auffahrt können sie nicht parken, weil dann die Zufahrt zur Garage blockiert wäre. Wenn Nachtmann oder Nachtfrau tagsüber kämen, könnten sie nicht in die Garage. Zu allen Zeiten, tagsüber und nachts, werden ihre Parkrechte geschützt. Das legt doch nahe, dass sie die Hausbewohner sind, die Vorrang genießen, und daher die Hauseigentümer, finden Sie nicht auch?«
»Entweder das, oder …« Simon hielt inne. Wäre es unprofessionell, mehr zu sagen? Aber er konnte keinen Grund dafür erkennen, heute Abend nicht genau das zu tun, was ihm beliebte. Er war nicht dienstlich hier. Offiziell befand er sich noch auf Hochzeitsreise. »Oder Tagmann und Tagfrau sollten gar nicht da sein«, sagte er.
»Was wollen Sie damit andeuten?« Der Professor beugte sich vor. Kurz fürchtete Simon, er hätte sich zu weit vorgelehnt und würde gleich aus dem Sessel kippen.
»Was ist, wenn die Nachtfamilie gar keine Ahnung hat, dass sie ihr Haus mit Herrn und Frau Tag teilt?« Herr und Frau Tag. Kit Bowskill und … wer?
»Betrüger, meinen Sie? Eindringlinge?« Lambert-Wall zog das kurz in Erwägung. »Nein, ich fürchte, da irren Sie sich.«
»Warum meinen Sie das?«
»Tagmann hat einen Schlüssel. Tagfrau auch. Ich habe gesehen, wie sie die Tür aufgeschlossen haben, gemeinsam und jeder für sich.«
Simon nickte. Er dachte über die Frage nach, wer alles einen Schlüssel zu einem Haus besitzen könnte, und er dachte an Lorraine Turner, die Immobilienmaklerin, der er nie begegnet war. Sam war auch noch nicht mit ihr zusammengetroffen, aber er hatte mit ihr telefoniert.
»Ah.« Der Professor hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Mir ist ein Name eingefallen. Ist es nicht seltsam, eben noch ist man sich einer Sache überhaupt nicht bewusst, und kurz darauf ist es, als wäre ein Vorhang zurückgezogen worden, und da ist es: eine Information, die die ganze Zeit über dort gewesen sein muss?«
»Ein Name?«, drängte Simon.
»Ja. Die Tagfrau heißt Catriona. Obwohl niemand sie so nennt, wie sie mir erzählte. Es ist wirklich eine Schande. Diese Abkürzungsmanie ist wirklich eine Art Vandalismus, finden Sie nicht auch?«
Simon beschlich ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend. Er wusste, was jetzt kommen würde. Er kannte ebenfalls eine Frau, die Catriona hieß.
»Alle, die sie kennen, nennen sie Connie«, sagte der alte Mann.
19
S AMSTAG , 24. J ULI 2010
Als ich einparke, steht Selina Gane vor ihrer Haustür. Ein Schlüsselbund baumelt von ihrer rechten Hand. Mit ihrer schwarzen Hose und dem blauen Leinenhemd könnte sie gut eine Maklerin sein, die sich mit einem Käufer treffen will.
Und bin ich etwa keine Käuferin?
Ihr blondes Haar ist zurückgebunden, ihr Gesicht ernst. Ob sie wohl auch diese Miene aufsetzt, wenn sie einem Patienten schlechte Nachrichten überbringen muss? Aber vielleicht ist sie ja gar nicht diese Art Ärztin. Vielleicht bringt sie ihre Tage im Labor zu und analysiert Gewebeproben, ohne je in Kontakt mit deren Eigentümern zu kommen.
Aus ihrer Haltung kann man ablesen, wie angespannt sie ist. Sie freut sich nicht auf diese Begegnung.
Natürlich
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