Das fremde Jahr (German Edition)
angeschaut haben und ich ihr vorgelesen habe, bis sie endlich eingeschlafen war. Nachdem Nina aus den Büchern genügend Wörter und Bilder geholt hatte, genügend Gefühle und Stoff, um die Ängste zu verdrängen, an denen sie Tag für Tag leidet. Es passiert, nachdem ich auch Thomas eine gute Nacht gewünscht habe, ohne zu wissen, wie es ihm wirklich geht. Er sitzt nur noch über seine Gitarre gebeugt da, mit immer längeren Haaren und einem feurigen Blick. Nachdem ich auch Herrn Bergen eine gute Nacht gewünscht habe, der halb liegend, halb sitzend auf dem Sofa im Wohnzimmer war, die Fernbedienung des Fernsehers in der Hand und eine Whiskyflasche auf dem Couchtisch. Es passiert erst danach. Und ich werde es nie mehr ungeschehen machen können.
Nach diesem Abend, an dem ich nach unten in mein Zimmer gegangen war, wo ich die Tür zugemacht und mich auf mein Bett gesetzt habe, als ahnte ich, dass der Tag noch nicht ganz zu Ende war. Als fehlte noch ein Abschluss, ein Schlusspunkt, eine Distorsion. Ich sitze mit dem Rücken an die Wand gelehnt da, mit angezogenen Knien, ohne etwas Besonderes zu tun, und nehme mir gerade vor, an Simon zu schreiben, sobald ich die nötige Energie haben würde, mich zu erheben und mein Briefpapier aus dem Schrank zu holen. Ich sitze also da, unschlüssig und verletzlich, auch müde, will aber noch nicht schlafen, sondern lasse die Minuten an mir vorbeigleiten, verharre bewegungslos und warte vermutlich darauf, dass etwas geschieht. Ich denke an Thomas, habe aber nicht den Mut, etwas zu provozieren. Thomas ist zu jung, er könnte Leo sein. Ich warte, ohne es zu wissen, ich tue nichts anderes als atmen. Das Telefon hat seit fast zwei Wochen nicht mehr für mich geläutet, ich zähle zwar nicht die Tage, kenne aber die Abstände, die mein Innerstes misst, ich kenne die Intervalle zwischen den gewechselten Wörtern, ich kenne die Ratlosigkeit, die diese erzwungenen Telefonate in mir auslöst, meist mit meiner Mutter, ich kenne aber die Leere, die das Fehlen von Wörtern in einem hervorruft. Ich sitze also hier, ohne etwas zu empfinden, den Rücken an die Tapete gepresst, die sich an manchen Stellen schon ablöst, ich höre den Regen fallen, der noch immer nicht aufhört, den Regen dieses Frühlings, der kein Ende nehmen will und auch nicht nachlässt, der bald den Weg überfluten und die Straßengräben überschwemmen wird, der Regen, der an unseren fröstelnden Rücken hinunterrieselt, unter unsere Haut und in unsere Köpfe dringt. Ich sitze also untätig auf dem Bett, als an meine Tür geklopft wird, und ich höre Herrn Bergen flüstern: »Darf ich reinkommen?« Ich antworte nicht, ich erstarre nur, ich habe keine Lust zu reden, irgendetwas zu tun, mit der Einsamkeit konfrontiert zu werden, die er seit der Abreise von Frau Bergen zweifellos verspürt, ich habe keine Lust, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen, Anteil zu nehmen; das Leben der Erwachsenen hat nichts mit mir zu tun, ich will nichts von ihren Sorgen und ihren schmerzlichen, ständig wiedergekäuten Erinnerungen hören, ich weiß nicht, warum, aber es ist eine instinktive Abwehr, am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten, und deshalb beginne ich zu zittern. Ich könnte mich schlafend stellen und nicht öffnen, aber ich stehe auf, als sei es meine Pflicht, aus Gehorsam vielleicht, weil Herr Bergen hierarchisch gesehen mein Chef ist und ich seine Bedienstete, er ist der Gebieter, ich die Untergebene. Er ist der Erwachsene, ich die Heranwachsende. Kurzum, ich öffne die Tür, und von diesem Moment wird der Regen nie mehr aufhören zu fallen.
Herr Bergen entschuldigt sich für sein Kommen, er sagt, er schaffe es nicht, ins Bett zu gehen, er sagt, eigentlich hätte er nicht kommen dürfen, er zögert, verhaspelt sich und sagt noch einmal, er könne nicht schlafen. Ich bleibe stumm, ich weiß nicht, was ich darauf antworten könnte, umso mehr als mir klar ist, dass der Mann nicht mehr ganz nüchtern ist und mein Deutsch nicht ausreicht, um die Worte zu finden, die in einer solchen Situation angemessen wären. Er fragt, ob er sich setzen darf, nur einen Moment, präzisiert er, und lässt sich schwerfällig auf mein Bett fallen, ohne meine Antwort abzuwarten. Da erst sehe ich die Tränen, die sein Gesicht gerötet haben, seine ohnehin schon plumpen Züge noch mehr deformieren, und ihm bis in den Bart rollen. Seine Augen haben einen merkwürdigen Glanz. Herr Bergen weint und lässt den Kopf zwischen die Hände sinken, verbirgt sein
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