Das fremde Jahr (German Edition)
Stuhl hin oder her –, aber wohin auf den zweitausend Quadratmetern eines riesigen Supermarkts? Herr Bergen führt sie zu den Stufen eines Podests in der Textilabteilung, zu Füßen von Mannequins in frühlingshaften Kleidern und mit Perücken in unterschiedlichen Farben. Frau Bergen atmet schwer, doch sie will kein Aufheben, damit sich die Kinder keine Sorgen machen. Herr Bergen bleibt bei ihr, während ich mit Nina, der Liste und dem Einkaufswagen im Laufschritt durch das Geschäft eile. Bei einigen Produkten zögere ich, andere vergesse ich, weil ich möglichst schnell fertig sein will. Sie soll die Panik der Erwachsenen nicht bemerken, die Angst in ihren Augen, Herrn Bergens völlige Unfähigkeit, die Eile, mit der der Einkauf erledigt werden muss. Es folgt der höchst langwierige Gang zur Kasse, die Suche nach einer Kreditkarte, die keiner in seinem Portemonnaie findet, dann nach den Wagenschlüsseln, die ebenfalls verschwunden sind. Ich weiß nicht, ob Nina und Thomas gemerkt haben, wie schlecht es ihrer Mutter geht, doch auf dem Nachhauseweg sagt niemand ein Wort. Ich sitze zwischen den beiden Kindern auf der Rückbank und starre auf die Straße und gleichzeitig auf den Tachometer, der mir bestätigt, dass Herr Bergen wie in Zeitlupe fährt, vor jedem Zebrastreifen abbremst. Ich begreife nicht, wie er es schafft, das Gaspedal nicht durchzudrücken, um nach Hause zu rasen, seiner Frau auf das Sofa zu helfen und dann sofort den Notarzt zu rufen. Wie schafft er es nur, beim Fahren hochkonzentriert auf den Verkehr zu achten und immer wieder gewissenhaft in den Rückspiegel zu schauen, als er genau in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit am Waldrand entlangfährt? Ich bewundere Herrn Bergen, aber gleichzeitig spüre ich eine unerträgliche Anspannung in mir. Der Rhythmus dieser Familie ist wahrlich nicht der meine, ihr Tempo ist mir unerklärlich, ihr Sinn fürs Überleben absolut fremd. Ich sitze verkrampft auf der Rückbank, betrachte Frau Bergens Profil und hoffe von ganzem Herzen, dass ihre Diagnose nur falscher Alarm war.
Hier wie in Frankreich ist der Frühling die Jahreszeit mit dem meisten Regen. Man glaubt, dass man nach der langen, winterlichen Leidenszeit endlich von Licht und Helligkeit verwöhnt wird, nach den vielen frustrierenden Tagen, die bereits mitten am Nachmittag abgeschnürt werden, und Windböen, die einen erstarren lassen und verkrampft machen: Man glaubt, dass es endlich milder werden wird, doch die angekündigte Milde ist nur eine sich ständig verzögernde Hoffnung, man muss sich weiter in Geduld üben und abwarten, bis sich der Regen ausgetobt hat. Durch das Klappfenster meines Zimmers fällt kaum Licht, weil der Himmel so schwer ist, Feuchtigkeit dringt durch die Mauer und sickert an der Wand herunter, und ich trage seit Tagen einen moderigen Geruch mit mir herum, mit dem sich auch meine Bettwäsche und meine Kleidung vollgesogen haben. Ich sage mir dauernd, dass es nicht so schlimm ist, denn der Frühling sei da, ich könne ihn nur noch nicht sehen; ich sage mir, dass es eine Sache von wenigen Tagen ist, dass ich nur durchhalten muss, ohne groß zu denken; ich muss jeden Morgen die lange Regenjacke anziehen, mit geschlossenen Augen, unter einem Regenschirm an der Bushaltestelle auf Nina warten und nicht darauf hoffen, dass in einem Dunstschleier über dem Wald eine kurzfristige Aufhellung verborgen sein könnte. Man muss trotzdem weiterleben, wie ein noch junges Tier, immer wieder dasselbe tun, ohne darauf zu hoffen, bald den warmen Sonnenschein genießen zu können, einen Schritt nach dem anderen machen, die Zeit durchqueren, ohne zu zählen. Aber dennoch schiele ich mit einem Auge auf den Kalender und weiß nicht, ob ich über meine baldige Abreise froh oder traurig bin. Ich nehme es mir übel, dass ich wegen des Regens schwermütig werde; stundenlang liege ich unter meiner Bettdecke und höre Musik, seit Frau Bergen nach ihrer Operation zur Erholung an einen speziellen Ort gefahren ist. Ich warte darauf, bis Herr Bergen am Morgen das Haus verlässt, ehe ich, nachdem ich einen Kaffee getrunken und einige Worte mit ihm gewechselt habe, wieder in mein kleines Kabuff hinuntergehe, der Versuchung nicht widerstehen kann und noch einmal unter meine Decke krieche. Dann höre ich, wie über mir der Regen auf den Kies auf dem Hof fällt und sich mit dem Geruch des feuchten Grases und den Benzindämpfen vermischt; meistens fallen mir die Augen noch einmal zu und ich lasse mich einlullen
Weitere Kostenlose Bücher