Das fremde Jahr (German Edition)
barfuß durch die Binsen gehen. Er hat nur noch die Unterhose an, und seine weiße Haut bibbert in dem gedämpften Tageslicht. Er geht vorsichtig, bewegt Arme und Schultern, um sich zu wärmen, und holt mehrmals tief Luft. Als er bis zu den Oberschenkeln im Wasser steht, dreht er sich zu mir und fragt mich, worauf ich noch warte. Sein Gesicht ist zuerst ernst, dann lächelt er, er lächelt mich an, ruft mich, streckt die Arme nach mir aus, erinnert mich daran, dass ich mir dann etwas wünschen darf. Ich schüttle mehrmals hintereinander den Kopf; nein, ich kann nicht zu ihm gehen, das wäre Wahnsinn, und außerdem würde mir auf die Schnelle auch kein Wunsch einfallen. Ich kann niemanden retten, Leo ist schon tot, aber das weiß Thomas natürlich nicht. Im Falle von Frau Bergen kann ich noch hoffen, ich kann meine Mutter retten und auch meinen Vater und warum nicht auch mich selbst? Thomas ruft, es sei kalt, ich müsse mich beeilen, und an seinem Tonfall merke ich, dass er keinen Witz macht, ich spüre das Dringliche in seiner Stimme. Ohne lange zu überlegen, springe ich auf, öffne den Gürtel meiner Jeans, ziehe Pulli und Bluse aus und mache ein paar Schritte auf Thomas zu. Ich mag das Gefühl unter den Füßen nicht, das feuchte Gras, dann das kalte Wasser, die klebrigen Algen, den Eindruck, zentimeterweise in dem mich einhüllenden Schlamm zu versinken, doch ich gehe angewidert weiter, kann keinen Rückzieher mehr machen, ich steige in das kalte Wasser und merke bald schon gar nichts mehr. Dann bin ich bei Thomas, der mir die Hand entgegenstreckt. Ich ergreife sie, lasse sie nicht mehr los und lasse mich auf Thomas’ verrückten Vorschlag ein, in den See ohne Grund einzutauchen, trotz des Risikos, dass er unsere Körper verschlingt und wir niemals mehr an die Oberfläche kommen. Hand in Hand waten wir noch ein Stück weiter und tauchen dann gemeinsam und laut schreiend bis zum Hals in das eisige Wasser ein. Unsere Körper sind hellwach, und in der Angst, ein Ungeheuer könne nach unseren Beinen schnappen und uns festhalten, rennen wir zur Uferböschung zurück. Mir ist, als würde ich verbrennen, als Thomas mir ein Handtuch aus seinem Rucksack reicht. Zähneklappernd trockne ich mich ab, mein Herz klopft zum Zerspringen, und ich lache übermütig und noch sprachlos vor Staunen über unsere Heldentat. Ich lache, weil Thomas mir so nah ist und wir nun dieses klitzekleine Geheimnis miteinander teilen. Ich fühle mich so wohl mit ihm, dass es mir fast Angst macht. Ich schaue ihn an, und als ich wieder in meinen Pullover schlüpfe, merke ich, dass er mich so verwirrt hat, dass ich vergessen habe, mir etwas zu wünschen. Ja, ich habe das Wichtigste vergessen und nicht im Traum daran gedacht, einen Wunsch zu formulieren.
Nach unserem heimlichen Bad geht das Leben im Haus weiter, trübsinnig und langweilig, mit sonntäglichen Besuchen bei Frau Bergen, mal mit mehr, mal mit weniger Hoffnung. Und immer diese Sprachlosigkeit zwischen uns. Herr Bergen sitzt beim Abendessen meist stumm am Tisch, kümmert sich kaum um die Kinder. Thomas, der mir so nah gewesen war, hat sich wieder von mir entfernt, denn offenbar kränkt es ihn, dass ich bald nach Frankreich zurückfahre. Eines Morgens fragt er mich unverblümt, ob ich wirklich gehen muss. Und Nina, meine Nina, meine kleine verstörte Heldin, verlangt als Einzige nach ihrer Mutter. Dieser düstere Ausklang während meiner letzten Wochen hätte sich auch so entwickeln können, dass ich mich in Gewissensbisse und in Bedauern darüber gestürzt hätte, dass ich Thomas nicht mehr geben konnte, obwohl ich vor Lust fast platzte, ich hätte meine Tage und Nächte damit zubringen können, mich zu fragen, ob ich nicht doch bleiben soll, ob mein Leben hier nicht mehr Sinn hätte als daheim in Frankreich, hier, wo Thomas’ Verlangen mich faszinierte und mir gleichzeitig Angst machte; ich hätte reglos das Ende abwarten und mich damit begnügen können, zu bügeln und Gemüse zu schälen, ich hätte einer düsteren Passivität erliegen und sogar das Lesen aufgeben können, das Denken und den Drang, immer alles verstehen zu wollen … hätte Herr Bergen nicht urplötzlich die künstliche Balance gesprengt, die sich allmählich eines jeden von uns bemächtigt hatte – uns vier, die wir von Frau Bergen unserem Schicksal überlassen worden waren, hilflos und ohnmächtig.
Es passiert eines Abends, nachdem ich lange in Ninas Zimmer gewesen war, wo wir gemeinsam Bilderbücher
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