Das fremde Jahr (German Edition)
von den Stimmen, den E-Gitarren und den Synthesizern, die meine wenigen Quadratmeter ausfüllen. Anschließend warte ich, bis Nina aus der Schule kommt und bin dann bis zum Abend beschäftigt.
Seit Frau Bergen nicht mehr hier ist, hat sich die Rolle eines jeden verändert. Innerhalb weniger Tage sind die Konturen klarer geworden. Mit der Leere, die Frau Bergen hinterlassen hat, hat sich etwas verkrampft, und ich bin eine Frau geworden, die Frau des Hauses. Ich bin nicht mehr die zweite Besetzung, eine Person, die man herbeiruft oder wegschickt, von der man erwartet, dass sie Wogen glättet, einen von der Langeweile ablenkt; nein, seit Frau Bergen abends unter einem anderen Dach einschläft und leidet, wie ich annehme, muss ich die Pflichten erfüllen, die von einer Frau im Haushalt erwartet werden, und ich spüre, dass mich die Kinder mit anderen Augen sehen, ich spüre ihre Besorgnis, um nicht zu sagen ihren Argwohn. Vor meiner Ankunft waren die Bergens zu viert, und nun wohnen wieder vier Personen in diesem Haus. Vier Personen sitzen abends am Tisch, vier sitzen im VW -Bus, vier vor dem Fernseher. Es ist, als sei Frau Bergen ersetzt worden, noch ehe sie gestorben ist. Zumindest empfinde ich es so, und ich kämpfe gegen diese natürliche Entwicklung der Dinge an, nehme mich zurück, um nicht langsam in Frau Bergens Haut zu schlüpfen, ich habe Angst, dass ich mich mit jedem Tag unwillentlich mehr verliere auf diesem Weg, der mich mit offenen Armen empfängt.
Zum Glück entpuppt sich Thomas als der Stachel im hübschen Bild der fast wieder zusammengesetzten Familie, das uns bedroht. Unbewusst weiß er zu verhindern, dass sein Vater und ich eine Art Paar bilden, ein Erwachsenen-Duo, das zwangsläufig unerträglich ist. Nein, Thomas will nicht, dass ich ihm entfliehe, dass ich das Lager und die Position wechsle. Er verbringt mehr Zeit zu Hause, geht mir beim Kochen zur Hand, kommt zu mir in den Waschkeller, wenn ich die Wäsche aufhänge. Aber das ist nicht alles. Was er mir an diesem Tag vorschlägt, als sich der Himmel endlich etwas aufklart, ist wie ein Geschenk für mich, er spricht von einer Überraschung. Da es endlich aufgehört hat zu regnen, sagt Thomas, ich solle mich hinter ihn auf sein Mofa setzen, wie an dem Abend von Andreas’ Party. Ich stülpe mir den Helm über den Kopf und fahre mit ihm los, ohne zu fragen, wohin es geht. Wir fahren nach Westen diesmal, wo ich noch nie war, nehmen gleich nach dem Bahnübergang die Abzweigung nach links und fahren dann über eine gewundene schmale Straße, gesäumt von Wiesen, die vor Nässe glänzen. Thomas muss mittreten, als die Straße über eine lange Strecke steil ansteigt, aber dafür geht es dann wieder bergab, und wir beugen uns nach vorn, um noch schneller zu werden. Ich habe keine Angst, wenn ich hinter Thomas sitze, ich vertraue ihm voll und ganz, als könne mit ihm zusammen nichts schiefgehen. Ich war erleichtert, als wir das Haus hinter uns ließen, und froh über die kleine Abwechslung. Thomas lenkt sein Mofa auf einen schmalen, schlecht geteerten Weg, und ausgerechnet in dem Moment, als unter uns eine dunkelgrüne Wasserfläche schimmert – das ruhige Wasser eines kleinen Sees, einsam in der Nähe eines Birkenwalds gelegen –, bricht die Sonne durch. Wir stellen das Mofa oben an der Böschung ab, nehmen die Helme ab und gehen die letzten Meter zu Fuß. Als wir am Ufer stehen, sagt Thomas: »Das ist der See ohne Grund. Wer darin eintaucht, kann sich etwas wünschen, und dieser Wunsch geht in Erfüllung.« Ich lasse ihn das Wort »Wunsch« wiederholen, um sicher zu sein, dass ich ihn richtig verstanden habe. Ich weiß nicht recht, warum Thomas wollte, dass ich ihn begleite. Wir schweigen, ich wage Thomas nicht zu fragen, was er von mir erwartet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir uns tatsächlich in das eisige Wasser wagen werden. Ich betrachte die sich leicht kräuselnde Wasseroberfläche, die Wolken, die von einem schwachen Wind am Himmel entlanggetrieben werden. Die Sonne scheint nur ab und zu hindurch, und mehr als zehn Grad haben wir sicher nicht. Ich glaube immer noch, dass Thomas’ Vorschlag, in diesem See zu baden, ein Scherz war. Ich setze mich am Ufer auf meinen Helm, die Füße im dichten Gras, und sehe, dass Thomas sich tatsächlich auszuziehen beginnt. Zuerst denke ich, er tut nur so, spielt mir eine Komödie vor, blufft, um mich zu testen. Will er mich eventuell sogar verführen? Doch dann sehe ich ihn ohne zu zögern
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