Das Fremde Mädchen
Blick schweifte über den Kreis der überraschten Gesichter.
Audemar und Cenred saßen beim Wein am Tisch, Emma stickte etwas abseits an ihrem Rahmen, achtete aber kaum auf die Arbeit, sondern wartete mit angespannten Nerven darauf, daß die Dinge endlich Gestalt annähmen und das Leben in seine gewohnten Bahnen zurückkehrte. Und der Fremde –
Cadfael bemerkte, daß Adelais den jungen Jean de Perronet bisher noch nie gesehen hatte. Auf ihm verweilte ihr Blick etwas länger, bis sie ihn als Bräutigam identifiziert hatte. Kaum wahrnehmbar verzogen sich ihre Lippen zu einem kleinen, spröden Lächeln, bevor sie Roscelin ansah.
Der Junge hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, wo er die Versammlung im Auge behalten konnte, als dächte er über eine bevorstehende Schlacht nach. Bereit und bewaffnet, steif und aufrecht saß er auf der Bank vor den Wandbehängen, den Kopf erhoben und die Lippen fest geschlossen. Er hatte anscheinend, wenn auch nicht eben begeistert, Helisendes Wunsch akzeptiert, in Farewell etwas Ruhe zu finden, aber er hatte nicht vergessen, daß diese Verschwörer geplant hatten, sie heimlich zu verheiraten und ihn um seine zugegebenermaßen fehlgeleiteten Hoffnungen zu bringen. Sein Kummer über seine Eltern erstreckte sich zwangsläufig auch auf de Perronet und selbst auf Audemar de Clary, in dessen Haus er verbannt worden war, um ihren Plänen nicht im Wege zu sein. Wie konnte er sicher sein, daß Audemar nicht noch mehr getan hatte, als einen passenden Ort für die Verbannung zu stellen? Sein von Natur aus offenes, freundliches und klares Gesicht war jetzt verschlossen, mißtrauisch und feindselig.
Adelais sah ihn länger an als alle anderen. Wieder ein Junge, der hübscher war, als es gut für ihn war und eine unglückliche Liebe anzog wie eine Blume die Bienen.
Die erste Überraschung war vorbei. Cenred stand hastig auf, um die Gäste zu begrüßen, und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen, um sie zu einem Platz am Tisch zu führen.
»Mylady, willkommen in meinem Haus! Es ist mir eine Ehre!«
Audemar, weniger erfreut, sagte mit leichtem Stirnrunzeln:
»Madam, was führt Euch her? Und noch dazu ohne Gefolge!«
Es war ihm lieber, wenn seine tatkräftige Mutter im entfernten Hales im Exil saß und dort Hof hielt. Als Cadfael die beiden nun beieinander sah, fand er sie einander sehr ähnlich. Zweifellos schätzten sie sich, aber seit der Sohn erwachsen war, konnten sie nicht mehr unter einem Dach leben. »Es war nicht nötig«, fuhr Audemar fort, »hierherzureiten. Ihr könnt nichts tun, was nicht schon getan wird.«
Adelais hatte sich von Cenred ein Stück weit in den Raum ziehen lassen, doch dann sträubte sie sich, blieb im Licht stehen und befreite mit herrischer Geste ihre Hand.
»Doch«, sagte sie, »es war nötig.« Abermals warf sie einen langen Blick auf die aufmerksamen Gesichter. »Und ich bin nicht ohne Schutz gekommen. Bruder Cadfael hat mich eskortiert. Er kommt aus der Abtei in Farewell, und wenn er uns verläßt, wird er dorthin zurückkehren.« Sie sah von einem jungen Mann zum andern, vom vorgezogenen Bräutigam zum enttäuschten Geliebten. Beide beäugten sie besorgt, denn sie spürten, daß eine Wende eintreten würde, auch wenn sie nicht wußten, was auf sie zukam.
»Ich bin froh«, sagte Adelais, »daß Ihr alle hier versammelt seid. So brauche ich nur einmal zu sagen, was ich zu berichten habe.«
Sie hatte sicher noch nie Schwierigkeiten gehabt, dachte Cadfael, während er sie beobachtete, die Aufmerksamkeit aller Menschen auf sich zu ziehen, ganz egal, wohin sie ging. In jedem Raum, den sie betrat, war sie der Mittelpunkt, die dominierende Gestalt in jeder Runde. Nun schwiegen alle und warteten, was sie zu sagen hatte.
»Wie ich hörte, Cenred«, sagte sie, »hattet Ihr die Absicht, vor zwei Tagen Eure Schwester – Eure Halbschwester, sollte ich besser sagen –, mit diesem jungen Herrn hier zu verheiraten. Aus Gründen, die vor der Kirche und der Welt Bestand haben, da sie mit Eurem Sohn Roscelin eine allzu innige Beziehung hatte. Die Trauung, nach der sie an einen weit entfernten Ort umgezogen wäre, sollte den Schatten einer so unheiligen Verbindung von Eurem Haus und Eurem Erben nehmen. Verzeiht mir, wenn ich so offen spreche, es ist zu spät für Höflichkeit. In jedem Fall trifft Euch keine Schuld, da Ihr nicht mehr wußtet.«
»Gab es denn noch mehr zu wissen?« fragte Cenred verblüfft. »Offene Worte sind mir mehr als recht. Sie sind nahe
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