Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
dass wir Abenteuer erlebten, so wie ich sie früher mit den Freunden im Garten meiner Großeltern erlebt hatte, aber ich war nie allein.
Meine Mutter und Nina wussten nichts von meinen besten Freunden, und das war besser so, denn obwohl meine Mutter gern betonte, dass sie das exzentrische Leben einer Künstlerin führe, hätte der Spaß bei den imaginären Freunden ihrer Tochter sicher aufgehört.
*
Alles ändert sich. Das Gute und das Schlechte. Gerade als ich denke, dass es für immer so weitergehen wird, dass ich für den Rest meines unendlichen Lebens morgens um sieben aufstehen und mit dem Bus zur Schule fahren muss, mich für immer auf der Eckbank neben der Cafeteria und hinter den Büschen verstecken werde, gerade als ich das denke, ist alles schon wieder vorbei.
Ich kehre Merwin und Corwin den Rücken, kehre meinem alten Zimmer den Rücken und ziehe aus. Ich schreibe mich für Kulturwissenschaften ein, ich komme an. Und in den ersten Monaten meine ich, nicht mehr zu gehen, sondern zu schweben, durch die Gänge, die Vorlesungssäle, die Bibliothek und den Flur vor dem Lesesaal, in dem nur geflüstert werden darf. Es dauert eine Weile, bestimmt zwei, drei Monate, bis mich die Zweifel, die Sorgen wiederfinden, so wie sie mich immer finden, bis heute. Immerhin ist es mir nun ein Leichtes, unsichtbar zu bleiben. Wir sind zu viele, als dass es eine strikte Hierarchie gäbe, ein feinmaschiges Netz aus vorgegebenen Positionen – die Außenseiter, die Wilden, die Beliebten –, in dem jeder gezwungen ist, seine Rolle einzunehmen und sie zu behalten. Trotzdem fühle ich mich fremd, auf dem großen Rasen sitzend, auf dem Sommerfest, auf den Partys. Da ist die alte Angst, man werde mir auf die Schliche kommen, etwas herausfinden über mich. Ohne dass ich sagen könnte, was mein Geheimnis ist, der Fehler, der Makel, um den es geht, sehe ich seiner Enthüllung angespannt und voll böser Vorahnung entgegen. Die Welt scheint mir aus Detektiven zu bestehen, alle beauftragt mit der Ermittlung meiner Person und dunkler Geheimnisse, die ich selbst bloß erahne. Ich fürchte mich vor der Friseurin, die über mein stumpfes Haar streicht, vor dem Zahnarzt, der durch die Löcher und bis in die Abgründe im Kopfinneren zu blicken scheint, vor der Mutter, die sich beiläufig erkundigt, ob noch immer kein Mann, keine Frau, ja nicht einmal eine Katze meine Wohnung mit mir teile.
Ich fürchte mich.
Die Geschichte von Paul
Als ich die Bibliothek gegen sieben Uhr verlasse, habe ich drei Anrufe in Abwesenheit auf meinem Handy. Seitdem ich an meiner Magisterarbeit schreibe, nehme ich das Handy nicht mehr mit in den Saal. Schon in den Tiefen der Tasche sehe ich es blau leuchten. Und als ich auf dem Display lese, dass ich drei Anrufe verpasst habe, weiß ich, dass etwas Schreckliches passiert ist. Jemand muss gestorben sein.
Ich werde nicht behaupten, ich hätte eine Vorahnung gehabt. Es würde auch nicht stimmen. Ich habe mit meinen Befürchtungen bloß einmal richtiggelegen. Zumindest fast. Denn als ich die Nummer meiner Schwester sehe, bin ich überzeugt, dass meine Mutter gestorben ist. Meine Schwester würde mich nicht ohne Grund anrufen, wir haben uns ja nichts zu sagen.
Obwohl man auf dem Gang vor dem Lesesaal nicht telefonieren darf, rufe ich sie gleich zurück.
Meine Schwester nimmt ab und fängt an, umständlich von ihrer zu hohen Nebenkostenabrechnung zu erzählen und von einem Mann, den sie kennengelernt hat. Ich halte es für immer weniger wahrscheinlich, dass meine Mutter gestorben ist. Dann räuspert Nina sich, und in dem Räuspern erkenne ich, was ich gleich hätte verstehen müssen: dass sie wahllos und ein wenig gehetzt über Banalitäten spricht, weil sie hinausschiebt, mir zu erzählen, weswegen sie mich eigentlich angerufen hat. Ich habe den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um das zu begreifen, da sagt sie es bereits, »Paul ist tot«, sagt sie, und ich sacke zusammen; die Bücher in meinem Arm sind so schwer, dass ich sie nicht länger halten kann. Statt sie fallen zu lassen, setze ich mich mitten in den Gang und lege sie ab.
»Aber wie … wie ist er denn gestorben?«
»Sie wissen es nicht genau.«
»Und ungefähr?«
»Er hat wohl viele Schmerztabletten genommen. Und getrunken hat er ja sowieso.«
»Aha«, sage ich.
Ich sitze auf dem Boden vor den Schließfächern und würde gerne würgen. Stattdessen schlucke ich sehr konzentriert mehrmals hintereinander. Irgendwann höre ich meine Schwester am anderen
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