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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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nur noch die Küche und das Bad benutzt. Und der Rest des Hauses ist zunehmend verwahrlost und verfallen, ist zum Geisterhaus geworden.
    Nachdem wir das Geisterhaus betreten haben, geht Nina in die Küche, um den Kühlschrank auszuräumen, und ich gehe hinauf in Onkel Pauls Zimmer. An den Wänden hängen Poster einer Band, die ich nicht kenne, die ich auf die späten Siebziger oder frühen Achtziger datiere, und ein gerahmtes Twin-Peaks-Plakat. Auf seiner Kommode und den beiden Fensterbänken steht noch immer seine staubige Mineraliensammlung. Seitdem er ein Kind war, hat mein Onkel Mineralien gesammelt, und auch als Erwachsener hin und wieder von der Eröffnung eines privaten Mineralienmuseums gesprochen. Natürlich ist es nie dazu gekommen. Als ich mich aber umsehe, die vergilbten Poster betrachte und die umfangreiche Sammlung an VHS-Videokassetten, die wie geheime Artefakte in ihren Schubern ruhen, denke ich, dass er sein Museum doch noch bekommen hat, oder vielleicht eher eine Zeitkapsel, denn ein Museum würde zumindest besucht, und ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass jemand das Zimmer meines Onkels betreten hat. Ich setze mich auf Pauls breites Bett. Ein Doppelbett, in dem er meines Wissens immer alleine geschlafen hat. Mir fällt auf, dass das Bett gemacht ist. Hat sich irgendwer darum gekümmert? Die Polizei? Die Sanitäter? Oder die Nachbarn, die Paul gefunden haben, nachdem meine Mutter sie gebeten hat, nach ihm zu schauen, weil sie ihn drei Tage lang nicht erreichen konnte? Vielleicht hat er das Bett auch selbst gemacht, vielleicht hat er seine Pullover zusammengelegt und in den Schrank geräumt, und vielleicht ist ihm schon ein wenig mulmig und schlecht gewesen, als er durch den Flur bis zur Tür zum ehemaligen Schlafzimmer seiner Eltern gelaufen ist, um sich dort auf den Teppich zu legen und nie wieder aufzustehen.
    Plötzlich ist mir, als hätte jemand ein kleines Fläschchen mit Säure in meinem Magen umgekippt, ein Brennen breitet sich unter meinen Rippen aus. Ich lege eine Hand auf den Bauch, friere und sitze regungslos in Pauls Zeitkapsel. Die Veränderung hat das Haus umzingelt, die Zeit ist wie eine große, unaufhaltsame Welle über den Ort hinweggegangen, und vor der Haustür hat sie nicht Halt gemacht. Auch Paul hat sie gefunden, zwischen den vergilbten Postern und leiernden Kassetten hat sie ihn gefunden. So wie sie mich findet, wie sie uns alle finden wird, denn die Veränderung ist ja schon in uns, ist in unseren Körpern angelegt, die zerfallen, sich neu aufbauen, sich reparieren und wieder zersetzen und endgültig zersetzen.
    Ich denke an meine Schwester, wie sie unten in der Küche verschimmeltes Brot wegwirft. Ich denke an meine Mutter, mit der ich immer noch jeden Tag telefoniere. Ich denke an meine verstorbenen Großeltern, die über fünfzig Jahre verheiratet waren und einander erst verloren durch den Tod meines Großvaters. Ich denke an meinen Vater, der uns irgendwann verlieren wollte, an Paul, den niemand gefunden hat. An die Menschen, mit denen wir gemeinsam ins Leben aufbrechen, und wie sie einer nach dem anderen stehen bleiben, aber man selbst läuft weiter, man kann gar nicht anders. Ich denke an mich selbst, im Garten meiner Großeltern und dass ich dort draußen Burgen für die Ewigkeit gebaut habe, aus Laub, aus Ästen. Ich war ein wildes Kind, und im Garten meiner Großeltern gehorchte mir alles.
    Ich möchte die Uhren im Geisterhaus anhalten, die Türen verbarrikadieren und die Fenster, aber auch, wenn man beschließt, das Haus nie wieder zu verlassen, nicht hinausgeht und niemanden hereinlässt, ist und bleibt ein jeder Tag ein viel zu großer Schritt in die Zukunft, und wir werden weiter mitgeschleppt.
    »Nina! Nina!«, rufe ich. Denn mit einem Mal bin ich sicher, hier und jetzt im Zimmer meines Onkels sterben zu müssen.
    Und Nina kommt. Sie rennt die Treppe hinauf, vielleicht, weil sie denkt, ich hätte ein Geheimnis gefunden, Liebesbriefe, deren Adressat uns mehr als verblüffen wird. Sie rennt in Pauls Zimmer und findet mich hustend auf allen vieren. Sie schlägt mir auf den Rücken, denn sie fürchtet wohl, dass ich mich an einem von Pauls klebrigen Hustenbonbons verschluckt habe, dabei ist es ja das ganze Zimmer, Pauls Einsamkeit, die mir quer in der Luftröhre steckt.
    Ich versuche aufzustehen, halb stolpernd, halb kriechend aus dem Zimmer zu kommen. Nina packt mich unter den Armen, zieht mich in den Flur. Dort gibt sie mich nicht frei, sie hält mich

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