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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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Ende der Leitung quäken, und ihre Stimme scheint mir unangemessen, aufdringlich in ihrer Lautstärke und ihrem Ton.
    »Marie, Marie bist du noch da?«, fragt sie.
    Es fühlt sich nicht so an, als ob ich noch da wäre, aber ich antworte: »Ja.«
    »Wir müssen jedenfalls nach Erlburg«, sagt Nina dann. »Ich kann dich morgen früh abholen. Mama fährt am Mittwoch, und ich denke, es wäre besser, wenn wir vorher schon da sind.«
    Mein Onkel lebt in Erlburg. Hat in Erlburg gelebt. Auch als meine Mutter wieder in die Stadt ging, ist er nicht ausgezogen, hat mit 48 noch immer im Haus seiner Eltern gewohnt. Aber darüber hat sich niemand in unserer Familie lustig gemacht. Alle sind dankbar gewesen, denn nach dem Tod meines Großvaters hätte meine Großmutter nicht alleine leben können. Dank Paul, der sich zunehmend um seine Mutter gekümmert, sie überall hingefahren und alle Einkäufe erledigt hat, ist sie noch bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren in dem Haus geblieben.
    Es gab vielleicht eine kurze Zeit – aber ich kann mich nicht an sie erinnern –, in der die Möglichkeit bestand, dass mein Onkel ausziehen würde. In einem der Brüche, die das Leben unterteilen, etwa nach der Schule, als er begann zu studieren. Paul aber blieb, wo er war, blieb in dem Haus, in welchem er Kindheit und Jugend verbracht hatte. Während seines Studiums zog er nicht aus, weil er sich eine eigene Wohnung nicht hätte leisten können, und nach seinem Germanistikabschluss zog er nicht aus, weil er sich bereits um seine Mutter, meine Großmutter, kümmerte. Er hatte gleich begonnen, an einer Doktorarbeit zu W . G. Sebald zu arbeiten. Die letzten fünfzehn Jahre hatte er an besagter Arbeit geschrieben, ohne dass irgendwer wusste, ob er Fortschritte machte und wie viele Seiten er bereits verfasst hatte. Ob überhaupt ein Abschluss in Aussicht stand, niemand wusste es.
    Die Fahrt bis nach Erlburg dauert beinahe zwei Stunden, und einen Großteil der Zeit schweigen Nina und ich.
    Obwohl wir beide in der gleichen Stadt wohnen, sehen wir uns nur selten. Ich kann mich nicht erinnern, ob es einmal anders war, ob es eine Zeit gab, in der wir einander nicht verwirrt, beinahe peinlich berührt, gegenüberstanden, wenn man uns alleinließ, nur wir beide, keine Mutter, keine unbeteiligten Dritten. Als hätte uns ein gemeinsamer Freund einander vorgestellt, um mit den Worten »Lernt euch kennen« davonzurauschen, obwohl wir beide auf den ersten Blick festgestellt hatten, dass wir nichts miteinander anfangen können. Aber es ist kein gemeinsamer Freund, der uns immer wieder zusammenführt, sondern eine gemeinsame Mutter.
    »Was macht Tom?«, frage ich Nina, denn ich will mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte mir keine Mühe gegeben.
    »Ach der«, sagt Nina.
    »Wie läuft die Arbeit?«, fragt meine Schwester.
    »Gut«, lüge ich.
    Nina stellt lauten deutschen Hiphop an, von dem ich Kopfschmerzen bekomme. Umständlich schmiere ich mir Tigerbalm auf die Schläfen und versehentlich auch ein wenig in die Augen, sodass ich den Rest der Fahrt durch einen dramatischen Tränenschleier wahrnehme.
    Alles ist anders. Erlburg ist mir fremd.
    Es gibt einen neuen Kreisel, in der Mitte steht eine Skulptur: ein schmaler Kupferjunge neben einem Fahrrad. Ich nehme an, dass er etwas mit der Geschichte der Stadt zu tun hat. Es gibt zwei neue Supermärkte, und das alte Kino ist verschwunden. Irgendwo wird es ein bedeutend größeres Kino mit »plex« am Ende geben, aber wir wissen nicht wo, wir kennen uns nicht mehr aus in dem Dorf, in dem wir aufgewachsen sind.
    Als Nina endlich vor dem Haus meiner Großeltern parkt, erschrecke ich. Auf der Rasenfläche hinter dem Grundstück stehen Neubauten. Wo vorher nichts war, sind nun Fremde zu Hause.
    »Ich bin froh, dass ich damals mit euch in die Stadt gezogen bin«, sagt meine Mutter oft. »Wenn man bleibt, dann erwartet man, dass alles andere auch bleibt.«
    Ich bin nicht geblieben, und ich habe trotzdem erwartet, dass alles bleibt.
    Seitdem meine Großmutter vor zwei Jahren starb, redeten meine Mutter und Paul davon, das Haus zu verkaufen.
    »Das Haus ist viel zu groß für Paul«, hat meine Mutter bei etwa jedem dritten Telefongespräch zu mir gesagt.
    »Das Haus ist viel zu groß für mich«, hat Paul bei jedem einzelnen Telefongespräch zu mir gesagt.
    Ich habe beiden zugestimmt, gleichzeitig aber gewusst, dass Paul nicht ausziehen würde. Statt sich etwa einen Untermieter zu suchen, hat mein Onkel außer seinem eigenen Zimmer

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