Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
weiter im Klammergriff, lässt auch dann nicht los, als ich anfange zu strampeln, zu rudern und um mich zu treten. Sie hält mich fest, bis ich ruhig werde und in mich zusammensacke.
*
Nachdem wir Pauls Zimmer ausgeräumt haben, kehre ich in mein Leben zurück und weiß, dass ich nun alles ändern werde.
Ich werde aus meiner kleinen, dunklen Ein-Zimmer-Wohnung in eine helle freundliche WG voller heller, freundlicher Menschen ziehen. Ich werde meine Magisterarbeit zu Ende schreiben und dann etwas ganz und gar Unvorhersehbares tun und wie sämtliche Freunde meiner Schwester nach Südamerika reisen. Oder ich werde mir einen Übergangsjob suchen, in einem Café oder einer Bibliothek, wo ich viel mit Menschen in Kontakt und bald schon für meine Freundlichkeit bekannt sein werde.
(Ich werde freundlich sein.)
Ich werde nicht und unter keinen Umständen promovieren.
Ich werde die Bibliothek ein für alle Mal verlassen, ich werde Veränderungen begrüßen und die Menschen, die mir begegnen, mit offenen Armen in meinem Leben empfangen.
Aber zunächst schlafe ich. Ich schlafe bis zu vierzehn Stunden am Tag, an den Wochenenden noch länger. Auch in der Bibliothek schlafe ich. Meine Arbeit langweilt mich so sehr, dass ich nur noch wenige Minuten am Stück daran schreiben kann, bevor ich entweder einschlafe oder FreeCell spiele.
Zu meinem Abschluss schenkt meine Mutter mir ein Bild einer apokalyptischen, grauschwarzen Landschaft, auf dessen Rückseite sie mit Bleistift geschrieben hat: Große Veränderungen erfordern große Veränderungen.
Die Geschichte der Zweifel
Ein Jahr später habe ich nicht nur meine Wohnung, sondern auch die Stadt gewechselt. Ich bin nicht in eine helle, freundliche WG gezogen, sondern in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Allein. Ich habe mir keinen Übergangsjob besorgt; soweit ich beurteilen kann, bin ich nicht freundlich geworden.
Ich habe mit der Promotion begonnen.
Noch immer schlafe ich sehr viel.
Zumindest tagsüber.
Nachts liege ich wach und fürchte mich vor Einbrechern. Unter meinem Bett verwahre ich ein Pfefferspray und ein Brotmesser. Noch immer telefoniere ich täglich mit meiner Mutter. Sie versteht nicht, wieso ich keine Freunde finde. Sie selbst hat viele Freunde. Auch meine Schwester hat viele Freunde.
»Gehst du auf Partys?«, fragt sie mich regelmäßig. So wie sie mich früher gefragt hat, ob ich meine Zähne geputzt, ob ich auch Zahnseide benutzt habe, so fragt sie mich jetzt: Gehst du aus, gehst du weg?
»Auf was denn für Partys?«, frage ich.
»Ich weiß nicht. Von deinen Mitstudenten?«
»Ich habe keine Mitstudenten. Ich promoviere.«
»Dann von deinen Mit-was-auch-immer. Du kannst mir nicht erzählen, dass es in der ganzen Stadt keine Partys gibt. Das glaube ich dir nicht, Marie.«
»Es gibt bestimmt welche. Aber keine, zu denen ich eingeladen werde.«
Das ist eine Lüge. Ich werde eingeladen – von Institutsmitarbeitern, von Frank und Nils, die zusammen mit mir promovieren. Ich werde zu Brunchs und Geburtstagsfeiern und Sektempfängen eingeladen. In der Regel gehe ich nicht hin, und wenn ich doch hingehe, dann weiß ich nichts mit mir anzufangen. Während ich mich hinter bräunlichen Topfpflanzen herumdrücke, erschließt sich mir die englische Beschimpfung: A waste of space. Genauso fühle ich mich: als Verschwendung von Raum, als ein sperriges Zuviel, mit schlechter Haltung und einem Kopf voller unpassender Bemerkungen. Den ganzen Abend über hoffe ich, nicht angesprochen zu werden, denn ich habe ja nichts zu sagen. Den ganzen Abend über hoffe ich, angesprochen zu werden, denn nichts ist schlimmer, als in einem Raum voller Menschen der Einzige zu sein, mit dem sich niemand unterhalten möchte.
Seitdem ich das Graduiertenkolleg besuche, bin ich auf drei Dates gewesen, eine überschaubare Reihe an demütigenden Desastern. Ich habe kein Talent für unverbindliche Unterhaltungen, langweile mich schnell und bin zu ungeduldig, um einen Hehl daraus zu machen.
»Du bist zu kritisch«, sagt meine Mutter.
»Besser als nicht kritisch genug«, sage ich. Eine Anspielung auf meine Schwester, die im vergangenen Jahr glaubte, im Internet ihre große Liebe gefunden zu haben. Nach zweimonatigem E-Mail-Wechsel gab sie ihre Wohnung auf und zog ins fünfhundert Kilometer entfernte München, nur um zwei Wochen später mit hängendem Kopf bei meiner Mutter aufzutauchen und sich für ein halbes Jahr in ihrem Arbeitszimmer einzuquartieren.
»Ich meine nur«, sagt meine Mutter.
Sie
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