Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Einzelnen; er steht mit seinen fünf Sinnen der Macht von bis zu 80 Millionen miteinander verschalteten Geistern gegenüber. Ein solcher Sturm fegt die Menschen vor sich her. Wie die großen Winde der Antike existieren solche AGGREGATE DER KÄLTE nie nur für sich, vielmehr arbeiten sie gegen andere, gegnerische Propagandamaschinen der gleichen Art. Die gefährlichsten Zustände dieses GESELLSCHAFTLICHEN WETTERS sind nicht die Kampfzeiten: Sie lassen sich einigermaßen durchschauen und ergreifen die Menschen nicht vollständig. Gegen die Rede der Tatsachen ist die Propaganda sogar machtlos, ja kontraproduktiv für den Herrscher.
Man muß das Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno nicht als Kritik an einer einzelnen Film- und Radioindustrie und schon gar nicht als Kritik an den Vergnügungszentren lesen. Vielmehr geht es um eine auf höchster Anstalts- und Verfügungsebene der Moderne eingerichtete, mit sozialem Überredungszwang ausgestattete Einrichtung, die zunächst »Stimmung« herstellt, und zwar über alle Gesellschaftsmitglieder hin. Es ist dies eine Stillstellung des »unruhigen Selbstbewußtseins«. Die Kehrseite solcher Gemütlichkeit ist der Schrecken.
Abb.: Theodor W. Adorno, Sohn eines Weinhändlers, behandelt den Kältestrom vor allem in seiner Schrift »Erziehung nach Auschwitz« und in der Negativen Dialektik. Kälte als »Defizit der Einfühlung« ist vorausgesetzt in allen seinen Werken. →
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[Die Bahnbehörde, welche die Transporte verwaltete, handelte hermetisch] Der Librettist von Franz Lehárs »Die lustige Witwe« wurde verhaftet und war mit anderen Opfern in einem Eisenbahntransport unterwegs. Arische Anwälte versuchten, den Todeskandidaten zu retten, indem sie darauf hinwiesen, daß der Führer diesen Autor persönlich schätze. Nichts konnte den Verfasser von »Geigen singen, Herzen klingen, hab mich lieb« retten. → Hitlers Lieblingsoperette: »Die lustige Witwe«, Tür an Tür mit einem anderen Leben , S. 187.
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[Der Ernstfall bleibt individuell, ist nicht gesellschaftlich] Ein Arzt hatte einem begabten Mann nach Durchsicht von dessen Blutbild das Leben um 16 Jahre durch ärztliche Maßnahmen verlängert. Der Arzt selbst aber starb an einem biologischen Unglück, das sich in seinem Körper vorbereitet hatte, weil ein »befreundeter Arzt«, den er konsultierte, nur oberflächlich untersuchte und behandelte. Ein solidarischer Tausch ZUVERLÄSSIGKEIT GEGEN ZUVERLÄSSIGKEIT gelingt nicht über einen Dritten. → Unzuverlässigkeit der Solidarität, Tür an Tür mit einem anderen Leben , S. 131.
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[Sie waren Terroristen] Die jungen Männer bildeten eine Gruppe. Jeder von ihnen war darin verstrickt, seinen »Wert« festzustellen, also zu beobachten, welchen Eindruck er verursachte (beabsichtigt: Schrecken). Das versuchten sie im Bahnhofsviertel einer deutschen Stadt an einer Frau zu erproben, einer momentan in ihrem Eigenwillen geschwächten Person, einer zerstörten Liebenden, einem »herrenlosen Objekt«. Sie wollten sich als auserwählt wahrnehmen. Biertrunken, wie sie waren an diesem Abend, war das praktisch ausgeschlossen. → »Mehrere junge Männer, häßlich, dreist, zudringlich, und zugleich aufmerksam den Eindruck, den sie hervorbrachten, beobachtend, kamen näher«, Tür an Tür mit einem anderen Leben , S. 514.
[Seit 37 Jahren] Die Ehebetten stehen zuhause seit je eng nebeneinander. Wenn ihr Mann wegen Höhensturms nicht schlafen kann oder beharrlich hustet, ist auch ihr der Schlaf entzogen. Sie wünscht sich, wenigstens so sorgsam behandelt zu werden wie ein gewöhnliches Ding. Die Mordlust, die sie manchmal empfindet, möchte sie nicht in sich fühlen. → Sie wollte wenigstens mit der Sorgfalt behandelt werden, wie man sie Dingen entgegenbringt, Chronik der Gefühle , Band I, S. 319.
Abb.: Zwei Opfer eines Schiffbruchs in Spitzbergen etwa 1896. Wenig später wurden sie von einem Schiff gefunden. Auch unter den einfachen Lebensumständen, die im Bild ersichtlich sind, besaßen sie im Umgang miteinander Zivilisation. So ließen sie die Köpfe nie unbedeckt, wenn sie nach draußen gingen.
[Eiszeiten] Als Eiszeiten bezeichnet man Perioden der Erdgeschichte, in denen mindestens ein Pol der Erde vergletschert ist. Es gab Zeiten, in denen beide Pole der Erde eisfrei waren. Die Gletscher, die wir heute in den Hochgebirgen sehen, sind nicht identisch mit der Vergletscherung in den
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