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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Fleischstücke anzubraten, den auf die Sauce geschütteten Armagnac in einer lodernden Flamme zu entzünden usf. Willi befand sich seit der Fischspeise im Streik. Er ließ das Pfeffersteak unangerührt wieder abtragen. Sein Verhalten belastete die Stimmung. Seine Geliebte, kurz vorher nach sechzehnstündiger Fahrt angekommen, noch in den verschwitzten Reisekleidern, betrachtete ihn kritisch. »Du bist albern, Willi.« Willi: »Dann bin ich eben albern.« Die mürrisch speisende Geliebte: »Sei nicht so patzig. Ich habe dir nichts getan.« Willi: »Um so schlimmer. Wenn ich mit allen Fasern will, daß ich dich umarme, dann will ich nicht ein Trumm gebratenes Fleisch essen. Wenn ich dich umarmen will, will ich nicht Konversation mit einem anwesenden Ehepaar oder auch mit dir machen. Wir haben außerdem während des Essens fast gar nichts geredet. Ihr eßt stumm. Du bist müde und albern, aber ich will dich umarmen. Ich kann nicht nur einmal an deiner Schulter vorsichtig riechen. Die Hand lahmt, wenn sie auf deiner müden Schulter tastet.« Die Geliebte antwortete kurz: »Laß mich mampfen.« Er aber in seinem Sinn: »Wenn ich dich so sehr umarmen will, dann will ich ebenso entschieden alles andere nicht.«
    Das gibt mit Sicherheit noch diesen Abend Streit.
Nebelfahrt
    Der Facharzt Dr. med. W. besaß in der Rhein-Main-Metropole einen hohen Rang. In seiner besten Zeit lernte er im Tennisclub »Palmengarten« eine Tennisspielerin kennen, eine hochgewachsene Frau. Er zögerte nicht, sich diese Trophäe, um die ihn andere Männer beneiden mußten, durch Heirat anzueignen, obwohl er kaum über die Zeit verfügte, neben seinem Beruf als Prominentenarzt und als medizinischer Forscher über gelegentliche Tennisspiele und den Besuch von Gesellschaften hinaus mit den Kaprizen einer anspruchsvollen Frau umzugehen.
    Sein persönliches Forschungsgebiet bezog sich auf die Wirkung von tierischen Eiweißen auf die Zellwände. Dort bildet sich, wie der Arzt weiß, ein Belag. DER GEIST DER GEFRÄSSIGKEIT , die der Jagd auf Eiweiß zugrunde liegt, so Dr. med. W., bildet in den Gefäßen »schwarze Gärten«. Tatsächlich sahen die Beläge auf den Zellen im Mikroskop wie dunkelfarbene Orchideen und fette Dschungelpflanzen aus. Sie überdeckten das natürliche Rosa der Zellwände vollständig. Die aggressiven Eiweiße, die sich nicht vollständig in das im Körper nutzbare ATP verwandeln, versteifen die Adern und verstopfen die Gefäße, eine Schuttmasse, die später das Herz ergreift und die Manager der Stadt in die Praxis des Arztes führt. Hierüber hatte Dr. med. W. ein umfangreiches Manuskript verfaßt. Von dessen Publikation versprach er sich einen Durchbruch seiner »Denkschule«.
    Im letzten Winter der siebziger Jahre geriet dieser große Mann in eine »Nebelfahrt«. Seine Lebensumstände, seine berufliche Position und seine Gesundheit verwirrten sich. Zwei Abenteurer hatten sich dem Arzt gegenüber anheischig gemacht, für die Drucklegung seines Manuskriptes zu sorgen. Sie hatten sich einen Scheck ausstellen lassen und diesen durch Hinzufügung einer Null gefälscht, das Geld abgehoben und waren verschwunden. Infolge der hinzugefügten Null ging es um eine eklatante Summe. Die ohnehin unzufriedene Ehefrau warf Dr. W. Verschleuderung des Erbes vor, das ihr zustand. Sie war 22 Jahre jünger als er. Die beiden Söhne, noch nicht erwachsen und an fernem Ort lebend, konnten dem alten Mann nicht helfen.
    In seine Praxis hatte er einen dynamischen Jungfacharzt aufgenommen. Die Patienten und ein Teil des Praxispersonals liefen über zu dieser aufgehenden Sonne. Der alte Mann saß an seinem Arbeitstisch, grübelte. Ein unflätiger Wutausbruch vor Zeugen gegenüber seiner aufsässigen Frau, noch immer eine der schönsten der Stadt, bot dieser den Vorwand, ihn in eine Anstalt einweisen zu lassen. Nach seiner Befreiung durch Urteil der zweiten vormundschaftsgerichtlichen Instanz traf er keine Anstalten, sich in irgendeine der früheren Wirklichkeiten wieder einzugliedern. Er hustete, kam aus dem Bett nicht heraus. Jetzt wurde er in ein Pflegeheim eingewiesen. Ihm fehlten seine Manuskripte, und wen auch immer er aussandte, sie zu finden und zu ihm zu bringen, er erhielt sie nicht zurück.
    Wasser in den Beinen. Die Herzkranzgefäße defekt. Er starb, noch immer VERIRRT IN UNWIRKLICHKEIT , an einer Lungenentzündung. Die Antibiotika vertrug er nicht und spuckte sie aus.
Künstlerische Installation, die nicht auf den kindlichen Instinkt geeicht

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