Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
befindet er sich aber seit 130 Jahren in einem anderen Zyklus seines Daseins und bildet grüne Beläge auf feuchten Felsen. In etwa 500 Jahren ist zu erwarten, daß an einer weiterführenden Stelle des Zyklus dieser Farne seine Gestalt von vor 130 Jahren wiederkehren wird, die in den Zeichnungen des Franzosen Regnier festgehalten ist.
Unerwartete Chance durch das Virus
Für einen anspruchsvollen und empfindlichen Erreger wie die Masern hatte Irland bis 1944 zu wenig Einwohner. Da sich das inzwischen geändert hat, erwartet der Mediziner Dr. med. David Ingwell demnächst eine Attacke, die Bildung einer Enklave oder Kolonie dieses Virus, die kaum zu bezähmen sein wird. Das werde zusätzlich zum Schuldenberg die Republik in eine Krise stürzen. Er schlägt vor, in Spezialkliniken zu investieren, von denen er annimmt, daß sie die Wirtschaftskrise kompensieren helfen, auch wenn die Bekämpfung der Masern keine Devisen bringt.
Im Marianengraben können die Atome bis in alle Ewigkeit kühlen
Eine nicht mehrheitsfähige Meinung vertrat Dr. Sigi Maurer, ein Schweizer im Dienste des japanischen Fernsehsenders NHK . Er meinte, man müsse die in Fukushima zum Abbau (oder zur Überdeckung durch einen Sarkophag) anstehenden maroden, kontaminierten Materiebrocken dorthin bringen, wo das Unglück seinen Ausgang genommen hatte. In die Tiefen des MARIANENGRABENS , der tiefsten ozeanischen Einkerbung der Erde, etwas südöstlich von Japan, solle man den ABRAUM schütten. Dort könnten die Teile in alle Ewigkeit abkühlen. Nach Ausklingen der letzten Halbwertszeiten würden sie zuletzt, auch wenn die Menschheit dann nicht mehr existiere, zu Sand, Stein oder selbst zu Wasser. Würde nicht aber das Leben auf dem Meeresboden dieses Grabens gefährdet, ein rätselhaftes Biotop, ein Unikat des Planeten? wurde Dr. Maurer von japanischer Seite gefragt. (Wäre Maurers Absicht bekannt, könnte es als gewiß gelten, daß die UNESCO den singulären, 1042 Meter tiefen Graben zum Weltnaturerbe erklären würde.)
Das beantwortete Dr. Maurer mit einem Hinweis auf die Maßverhältnisse. Verglichen mit den ungeheuerlichen Wassermassen, die der Meeresgraben südöstlich der japanischen Inseln umfasse, sei die atomare Materie unbeachtlich, die dort versenkt werde. Etwas anderes müßte gelten, räumte er ein, käme die Menschheit auf die Idee, den atomaren Müll überhaupt dort (statt in unsicheren Salzbergwerken) zu entsorgen. Allerdings müsse man irgend etwas zu opfern bereit sein, fügte er hinzu, wenn es um die Energieversorgung der Menschen zu niedrigen, abgespeckten Preisen gehe. Über Opfer gebe es von jeher Trauer. Da aber die tiefsten Tiefen des Ozeans den Menschen (bzw. Lesern, Hörern, Mediennutzern) unbekannt seien, werde man kaum betrauern, was wir gar nicht kennen. Wir trauern nur um etwas, das wir lieben. Vom Unbekannten dagegen könnten wir uns nur einbilden , daß sein Verschwinden uns leid täte.
Das unheimliche Potential, welches in der Erdkruste schlummert
Über dem Engadin hat es die ganze Nacht geschneit. Mit großer Gerechtigkeit liegt der Schnee auf Bäumen, Seen und Ebene verteilt. Eine leichte Last. In den Morgenstunden kann man zwischen Raureif und Schnee kaum unterscheiden. Auf den Bäumen, die an den Hängen stehen, erscheint, aus der Nähe gesehen, die Häufelung des Schnees so dick wie die Äste und Zweige selbst. Es spricht für die Sanftheit, mit welcher der Schnee sich niederläßt, daß eine solche Türmung möglich ist.
In großer Höhe des Tals dagegen, in der Nähe der Grate und Gipfel, haben die Wolken an den baumlosen Hängen einige Millionen Liter Schnee auf engem Raum ausgeschüttet. Eine Wüste oder ein Sumpf insofern, als ein Wanderer bis zum Hals einsinkt. Hier oben herrschen Verhältnisse wie im Eisgelände des Polarmeers oder im Hindukusch im Osten.
Tom Tykwer, der noch überlegt, ob er den Auftrag für eine Dokumentation »Wer war Jesus wirklich?« ablehnen soll, notiert in seinen Arbeitsheften, daß ein Engel des Morgenlandes und die Geburtsstätte des Heilands in einer Schneekulisse schwer vorstellbar seien. Eher läßt sich mit der Kamera der Schnee auf dem Gipfel hochgelegener Vulkane filmen. An der Schneegrenze des Ätna liegt der weiße Teppich des Neuschnees unmittelbar an der schwarzen Lavazone. Das, so Tom Tykwer, wäre ein Motiv für den Anfang eines Films. Er müßte »Die Pranke der Natur« heißen, weil es um das unheimliche Potential gehe, welches in der Erdkruste schlummere.
Hotel
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