Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
ist, vor Abgründen innezuhalten
Ein flacher gestauter See. Es handelt sich um eine Wasser-Installation auf einer breiten Steinplatte, die als rechteckiger Findlingsblock vor das Grandhotel gebaut ist. Wo der Abgrund beginnt, sieht man nicht; er ist in verlockender Nässe versteckt, die kein Ende zu haben scheint. In dem flachen sommerlichen Wasser stolpert ein Kind dem Rand des Kunstwerks zu. Auf beiden Seiten warten je ein Schutzengel, der Vater, die Mutter. Sie fangen das Kind an der Wassergrenze ab, dort, wo die Lust am Laufen im spritzenden Element über die Grenze hinausführt und der Abgrund beginnt. Das Kind kehrt sofort um und läuft durch das Flachwasser zur anderen Seite, wo der andere Elternteil am gefährlichen Punkt wartet.
Das Tier wollte uns nicht rammen
Auf dem steilen Bergweg kommen uns zwei Reiter entgegen. Den erwachsenen Reittieren folgt ein Fohlen in einigem Abstand. Wir grüßen den Reiter und dessen Tochter und sehen zu den schönen Rössern hin, erschrecken dann, weil das Fohlen überraschend rechts von uns den steilen, grasbewachsenen Hang entlanggaloppiert, direkt am Abgrund, so daß ein einziger Fehltritt dem Tier das Gleichgewicht rauben müßte. Das Fohlen wollte uns nicht rammen.
Wir, abgelenkt von den erwachsenen Reitern, blockierten die Mitte des Weges. Das junge Tier wollte aber auch nicht den langsamen Pferden auf deren Spur folgen, sondern (aus irgendeiner Regung heraus) uns sämtlich überholen, und preschte so an der gefährlichsten Zone des Weges voran. Diese Fluchttiere haben ein von der Haut ausgehendes Ahnungsvermögen für Hindernisse und Abstürze im Umkreis. So wie andere Tiere einen Geruchsdom besitzen, in dem sie sich sicher fühlen. Ähnlich wie Menschen sich in ihr Vorstellungsvermögen hüllen und so eine Gefahr leugnen, was aber nie so hilfreich ist wie der Instinkt der Fluchttiere, die sich ihren Fluchtweg am Rande des Abgrunds bahnen.
Eulenspiegel in der Pferdehaut
Der bei Todesstrafe aus dem Lande verwiesene Eulenspiegel, der dennoch zurückgekehrt war und das Land durchreiste, sah die Häscher des Fürsten schon von weitem auf sich zukommen. Er schlachtete sein Pferd, weidete es aus und kroch in die Pferdehaut, nähte diese von innen zu.
Dem Prokurator des Fürsten, der vor dem seltsamen Gebilde, das auf dem Wege lag, überlegte, was er den Häschern befehlen sollte, rief Eulenspiegel aus seinem sicheren Versteck zu: Er befinde sich nicht im Lande des Fürsten, sondern in seinem eigenen. Oder wolle der Prokurator bezweifeln, daß das Pferd nicht sein eigenes gewesen sei? Der Nicht-Realismus der Situation beeindruckte den Prokurator und danach auch den Fürsten, dem der Vorfall berichtet wurde. Der Herrscher war sich nicht sicher, wie sein Volk es empfinden würde, wenn er Eulenspiegel, den die Pferdehaut offensichtlich von der Realität des Landes abtrennte, weiterhin verfolgte. So gebot er Eulenspiegel, herauszukommen unter Zusicherung freien Geleits.
Wirklichkeit als eine zweite Haut
Was geschieht eigentlich, wenn man aus der Wirklichkeit abstürzt? Das wurde die ehemalige Bischöfin der evangelischen Kirche gefragt. Aus Gottes Hand kann man nicht fallen, antwortete sie knapp.
Es war nicht einfach, einem theologischen Laien von der Tagespresse zu erklären, was »eine Wirklichkeit ist, aus der man nicht stürzen kann«. Sie ist eine zweite Haut, ein drittes Kleid oder ein Haus, in dem Menschen leben, ohne daß es wie ein Haus aussieht. Stürzt dieses Haus namens Wirklichkeit ein, fuhr die Bischöfin fort, oder wird es zerbombt oder brennt es ab, so müssen wir ein neues bauen.
Das aber ist bei der Haut nicht möglich, erwiderte der Journalist, der doch einfühlsamer zu sein schien, als sie zunächst gedacht hatte. Wir können uns nicht wie Reptilien häuten. Und deswegen gibt es einen Absturz aus der Wirklichkeit, der sich durch nichts ausgleichen läßt. Daß einem buchstäblich die Haut abgezogen wird, fragte die Theologin zurück, wie bei einer mittelalterlichen Tortur? Auch Märtyrer in der Antike haben das erfahren müssen.
Das Gespräch dauerte dann doch die ganze Nacht. Wenn nämlich in der Realität, die verlorenging, wesentliche Teile eines Menschen verhaftet sind, wird die Seele und durch sie manchmal auch der Körper zerrissen. Oder der Riß in der Seele, fügte der Journalist hinzu, entzieht dem Körper den Sinn. Das kann man so oder so sagen, antwortete die Theologin. Und es gibt Fälle, in denen Gott DEN VON DEM WIRKLICHKEITSABSTURZ
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