Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
überlagert, so daß wir stets unterhalb dieser »kalten« Schichten unsere Spur verfolgen mußten.
Weder vor 180 Millionen Jahren noch heute wuchs irgend etwas Wertvolles auf »unserem« Äquator. Damals sengende Sonne, heute durch Kälte zerstörte Landschaft (mit Ausnahme in Arabien, Australien, Südchina und Malaysia). Nichts trug dazu bei, daß mein Begleiter und ich uns durch enthusiastische Forschung, Entdeckung terrestrischer Schätze, einander angenähert hätten.
Zuletzt hatten wir den Verlauf des Äquators von Pangäa vollständig bereist. Heimgekehrt, konnten wir an unseren Computern den Verlauf der Gewässer, die Keime unserer Meere oder Ozeane irgendwie rekonstruieren. Was für wollüstige Tage, wenn wir wieder in unseren Büros saßen, physisch getrennt voneinander, angeschlossen an Lebensmittel aus Automaten, individuell strukturiert und den Rechnern Vertrauen schenkend. Statt Kilometer für Kilometer Land zu durchqueren, für dessen Zusammenhang vor 180 Millionen Jahren sich kein Lebewesen mehr interessierte.
Im Ergebnis entspricht das ganze PROJEKT PANGÄA (was die Entwicklung des Planeten und die des Lebens betrifft) dem, was man unter Menschen einen Irrtum nennt. Zwar hat ein Planet keine »Ideen«, aber die Bewegung der Kontinente produzierte so etwas wie die »Idee einer Supermacht«. Diese gewaltigste Landmasse, die sich je vereinigte, führte in ihrer Gewaltsamkeit zu keiner Vermehrung des Lebens, zu keiner Vielfalt. Wie sollten Lebewesen zu Horizonten laufen, die doch nie endeten? Wie konnten Wolken und Meere auf das gewaltige Monopol von Silikaten noch einwirken? Das Monstrum Pangäa war stets entweder zu kalt oder zu heiß, die wenigen Regenwälder waren unauffindbar für die auf der Landmasse verlorenen Lebewesen.
Raubwanderung
Zwischen dem Roten Meer und den Wassern des Mittelmeeres besteht ein Gefälle. Die Öffnung des Suezkanals im Jahre 1869 hatte zur Nebenfolge, die den Festgästen aber nicht auffiel, daß unterhalb der Schiffe, die den Kanal zu befahren begannen, ein Fluß oder Strom neuer Fischrassen ins Mittelmeer hineinwanderte. Bis 1944 hatten sie das östliche Becken und über die Meerenge bei Malta das westliche Mittelmeer erreicht. Wo sie erschienen, zerstörten sie die seit der Antike siedelnden Fischbestände des Binnenmeeres. Nie hätten sie den Weg hierher über die Ozeane hinweg und durch die Meerenge von Gibraltar gefunden. So aber, plötzlich, weil unter der trügerischen Wasserfläche des Kanals »eingesickert«, eroberten sie das verwöhnte Seegebiet. Sie fraßen nicht die Einheimischen, sagen die Ichthyologen, sondern nahmen ihnen die Nahrung. Nur noch übertroffen durch die Männer und Frauen des Menschengeschlechts, welche die größten Raubwanderer von allen sind. Sie zerstören grundsätzlich alles, was vor ihnen am Ort vorhanden war. Die Ausbreitung der Frauen vollzieht sich dabei achtmal so rasch wie die der Männer.
Obergrenze der Raublust
Ein Raubtier, das sich von Adlern und Löwen ernährt, braucht eine Heimat von der Größe ganz Schottlands. So wie Macbeth und der »Zug der Schattenkönige«, die er ermordete, eine Unterwelt brauchen, die von Schottland bis Gibraltar reicht. Dieser Raumbedarf setzt der Raubtiergröße innerhalb der Evolution Grenzen.
Goethe und die natürliche Zuchtwahl
Auf Seite 209 der Leipziger Reclam-Ausgabe von Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl stützt sich im Unterkapitel »Kompensation und Ökonomie des Wachstums« Charles Darwin auf Goethe. Im Gegensatz zu jeder Idee eines grenzenlosen Fortschritts oder eines Wachstums ohne Grenzen, wie sie die menschlichen Gesellschaften ohne die Rasanz der neuen Welt an einigen Punkten uns vorführt, sei Größe stets von Fortfall, Verkümmerung und Rückbildung begleitet. Wenn ein Cirripede, so Darwin, parasitisch lebt, also geschützt in einem fremden Organismus, so verliert er mit verbessertem Fortkommen ganz oder zum Teil seine Schale. »Die natürliche Zuchtwahl wird daher stets solche Teile des Organismus zu verringern suchen, die infolge veränderter Lebensweise überflüssig geworden sind.«
Diese KOMPENSATION UND ÖKONOMIE DES WACHSTUMS ist bei Goethe jedoch noch anders dargestellt als bei Darwin. Die Sparsamkeit der Natur, sagt Goethe, ist mit einer Gebefreudigkeit dahingehend verknüpft, daß das auf einer Stufe des Lebens überflüssig Gewordene sich auf anderer Stufe zu mächtigem Wachstum erhebt. So wird ein Knochen als Knochen des Geistes groß (wenn er
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