Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
gelangt, das mit Bohnen bepflanzt war. Und da sie das Verbot, Bohnen zu berühren, nicht übertreten wollten, blieben sie stehen und wehrten sich mit Stöcken und Steinen. Schließlich wurden sie von den Leibwächtern erschlagen. Die Häscher des Dionysios waren beschämt. Da begegneten ihnen Myllias von Kroton und seine Frau Timycha, die hinter den übrigen zurückgeblieben waren, da Timycha schon im 10. Monat schwanger war. Die beiden führten sie zum Tyrannen [. . .]. Dionysios zeigte sich niedergeschlagen. »Ihr werdet«, so sprach er, »im Namen aller anderen die verdiente Ehre von mir empfangen, wenn ihr bereit seid, mit mir zusammen zu regieren.« Myllias und Timycha lehnten seine Vorschläge ab. Da sprach er: »Was ist der Grund dafür, daß deine Freunde lieber sterben wollten, als auf Bohnen zu treten?« Sofort antwortete Myllias: »Sie haben den Tod auf sich genommen, um nicht auf Bohnen zu treten, ich aber will lieber auf Bohnen treten, als Dir den Grund dafür sagen.« Dionysios ließ ihn abführen und Timycha foltern. Diese Heldin aber biß sich die Zunge ab und spuckte sie vor dem Tyrannen aus. Damit zeigte sie: Selbst wenn ihre weibliche Natur durch die Folterungen überwunden und sie gezwungen würde, etwas von den verschwiegenen Geheimnissen zu offenbaren, so wäre ihr doch das Mittel dazu benommen.«
Die Erzählung verdeckt, vermutet der Archäologe und Oberbaurat Süskind, ältere Geheimberichte; sie verbirgt etwas und mag auch Mißverständnisse der Überlieferung enthalten. Deutlich ist aber der Nachdruck, mit welchem philosophische Geister der Drohung eines Machthabers widerstehen. Offenbar geht es auch nicht um das Verbot, ein Bohnenfeld zu betreten, sondern darum, DASS ES PUNKTE AUF DEM PLANETEN ERDE GIBT , DIE KEIN HERRSCHER FÜR SICH IN ANSPRUCH NEHMEN DARF . Merkwürdig das Motiv, daß der Herrscher die Regierung seines Reiches mit zwei solch unabhängigen Geistern (»ich sei im Bunde der Dritte«) teilen will. Schillers Ballade Die Bürgschaft geht, so Süskind, auf die Erzählung des Iamblichos zurück.
Bei Betrachtung eines Kleinkinds im Jahre 1908
In der Mittagssonne wehten die Gardinen wie Segel satt vom Wind. Die Fenster des Kinderzimmers zum Garten standen weit offen.
Das Kind schlief, die Arme über der Decke, daß es nicht schwitzte. Es pupste einige Male, verdaute. Die junge Mutter wartete auf ihren Mann, der das Haus pünktlich um 13 Uhr zum Mittagessen betreten würde. Die Enzyme seines Magens, der Zuckerhaushalt seines Blutes verhielten sich wie Uhren; in allem übrigen war er ein generöser Mann. Damit nichts den pünktlichen Ablauf störte, hatte sie das Kind vorzeitig gesättigt, und jetzt hatte sie Zeit zu warten.
Die Gesichtszüge des Kindes erinnerten sie an ihren Lieblingsbruder. Was aber kann bei einem sich täglich wandelnden Geschöpf an untrüglichen Zeichen oder an Erinnerung an andere Mitglieder der Familie festgemacht werden? Sie würde die Züge dieses Kindes von allen anderen Kindern in der Welt unterscheiden können, wie aufgeregt, wie verdreckt auch das Gesicht sein mochte oder wie diffus das Licht wäre. Sie hätte aber nicht aufzählen können, auf welchen einzelnen Faktoren dieses Gesamtbild beruhte, das sie besaß. Es war ja schon das Gesicht des schlafenden Kindes mit dem, das tags greinte oder lachte, nicht zu vergleichen.
In 36 Jahren wäre dieses Lebewesen so alt wie sie jetzt. Das wäre im Jahre 1944. Die Wartende wußte nicht, daß junge Frauen in jenem fernen Jahr bei Alarm dem Zoobunker zueilen würden, einem Betonbau, der andere steinerne Denkmäler übertraf und wirksam erst drei Jahre nach Kriegsende gesprengt werden konnte.
»Ein Mensch ist des anderen Spiegel«
Die junge Frau erzählte: Ich saß vorgestern mit einem Drehbuchautor am Tisch, und heute sitze ich in einem Steakrestaurant an der Spree mit einem anderen jungen Mann zusammen, und wir kommen auf Drehbücher zu sprechen. Und er redet von einem Drehbuchautor, den er kenne und der vorgestern mit einem Mädchen gesprochen hatte. Und das war dann ich, so daß der Faden des Gesprächs nicht abriß, weil ich mich darüber freute, daß jener Autor mich wahrgenommen und seinem Freund davon erzählt hatte, der jetzt wie ein Spiegel, in dem ich mich wiedersah, neben mir saß und heftig plauderte, ohne wirklich zu wissen, warum ich für einen Moment glücklich aussah, nur weil sich Lebensfäden berührt hatten und die Rede der Menschen nicht vergeblich ist. Sogleich hatte ich Appetit.
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