Das Fünfte Geheimnis
Kleider waren zerrissen, angekohlt, aber sie schien unverletzt.
„Bist du okay?“ stieß Bird heiser hervor. Sie nickte. Er zerrte an den Stricken, mit denen sie gefesselt war, bekam aber die Knoten nicht auf. Jemand zupfte ihn am Bein und legte ihm ein Taschenmesser in die Hand. Er durchschnitt die Stricke, mit denen Maya gefesselt war.
„Gib sie hierher“, hörte er Isis sagen. Er hob Maya nach unten und Isis legte sie sich über die Schulter. Mitten im Kugelhagel und den zuckenden Laser ließ er sich von der Plattform fallen. Bird fühlte sich heftig umarmt. Er blickte auf und sah in Madrones Gesicht.
„Du lebst!“
„Und du auch!“ Für einen langen Moment hielten sie sich fest, während die Plattform in Feuer aufging, und die Menschen flüchteten. In ihren Armen fühlte er sich befreit und erlöst, errettet. Sie hielt ihn in den Armen und war zu Hause.
Er drehte sich um: „Rosa! Wir müssen Rosa retten!“
Sie bahnten sich ihren Weg durch die Massen. Und sie riefen immer wieder Leuten zu: „Die Gefangenen! Wir müssen die Gefangenen befreien!“
Die Masse hinter ihnen drängte vorwärts. Sie rannten zur Nordseite der Plaza und die Straße hinunter zur alten Bibliothek. Immer mehr Menschen fanden sich vor den zertrümmerten Glasportalen des Rathauses ein, vor dem fünf bewaffnete Soldaten Wache hielten.
„Wer geht zuerst?“ fragte Madrone, mit einem vorsichtigen Blick auf die Bewaffneten.
„Die Toten!“ sagte Bird, und begann zu singen. In der Luft erhob sich ein Rauschen. In Sekundenschnelle umschwärmten sie ganze Wolken von Bienen. Die Bienen stürzten sich auf die Soldaten, flogen ihnen in die Augen. Die Soldaten ließen ihre Waffen fallen und flohen.
✳✳✳
Sie fanden Rosa in einem der Kellerräume. Sie lag auf dem Boden, die Augen geschlossen, ihr Kopf merkwürdig verdreht. Madrone packte Entsetzen. Oh Mutter, Mutter, ich habe doch alles versucht, um so viel Gewalt zu verhindern, aber ich habe versagt.
Bird beugte sich zu Rosa nieder und nahm sie in den Arm. Ihre Haut war eiskalt, aber sie regte sich und versuchte zurückzuweichen,
als sie die Berührung spürte.
„Sie lebt“, flüsterte Bird, „Dank der Göttin.“
Rosa öffnete die Augen, blickte ihn an und schreckte zurück.
„Es ist alles gut, querida. Du bist nun in Sicherheit. Sieh nur, Madrone ist hier.“
„Madrone?“
Bird hob Rosa vorsichtig hoch und legte sie Madrone in die Arme. Sie umschlang das zitternde Mädchen voller Sanftheit und Güte, streichelte ihr beruhigend übers Haar. „Es ist alles okay, Baby. Es ist alles wieder gut. Diosa, ich bin so froh, daß du lebst.“
Bird lehnte sich erschöpft an die Zellenwand. Die Energie verließ ihn. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Die Geister verließen ihn. Es war dunkel hier unten im Keller, aber er konnte gut sehen. Gleich würde ihm übel werden.
„Laßt uns rausgehen“, sagte er.
Sie brachten Rosa an die frische Luft. Sie saßen in der Sonne auf den Stufen vor dem Rathaus. Die Menge hatte sich zerstreut.
„Wir stürmen nun das Spital“, rief einer der vorbeihastenden City-Bewohner ihnen zu.
Die Soldaten bekämpften sich gegenseitig.
River hatte eine Schwadron angeführt, die sich des Waffenarsenals der Stewards bemächtigt hatte. Nicht wenige der Stewards waren in Richtung Southlands geflohen. Doch noch mehr übergaben ihre Waffen und baten um Asyl. Auf der Plaza und in den angrenzenden Straßen lagen die Toten. Gruppen von Freiwilligen drangen in die besetzt gewesenen Gebäude ein, suchten nach Gefangenen und befreiten sie.
Die Rathausstufen waren noch kalt, die Sonne warm. Und auch Madrones Hand lag warm in Birds Hand. Rosa schmiegte sich an Madrones Schulter, immer noch zitternd und unfähig zu sprechen. Menschen strömten vorbei, schwangen Fahnen und sangen Siegeslieder.
„Ich schätze, wir haben gesiegt“, sagte Madrone. „Ich kann es kaum glauben. Wir sollten glücklich sein.“ „Bald kann ich es auch“, sagte Bird, „aber im Moment muß ich mich erst fassen, es kam alles zu plötzlich.“
Innerlich fühlte er sich kalt und leer. Das helle Sonnenlicht blendete ihn. Er hätte so gern Madrone umarmt, doch er war nicht einmal imstande, sich zu ihr umzudrehen.
„Ich habe ihr Klavierstunden gegeben“, sagte er schließlich, „Rosa, erinnerst du dich? Vielleicht lernst du ja nun das Mozartstück doch
noch?“
Dann begann er zu weinen, und Madrone nahm ihn in die Arme.
„Du wirst heilen“, flüsterte sie, „wir alle
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