Das Fünfte Geheimnis
für sie frei war. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie werden zurückschießen, und wir sind die Verlierer.
Aber wenn Bird sich weigert? Mußte sie dann ohnmächtig zusehen, wie er vor ihren Augen starb? Ohne jede Chance, ihm einen letzten Gruß zuzunicken? Oh Bird, Bird, ich liebe dich – und ich kann dir nicht helfen, ich habe nicht den Hauch einer Chance. Sie konnte nur versuchen, einen letzten Blick von ihm zu erhaschen.
Bird fühlte einen sanften Windhauch seine Wangen streicheln, wie eine ferne Liebkosung von zärtlicher Hand, sanft wie Frühlingsregen. Er empfand, daß da jemand war, der ihm beistand.
Wer immer du bist, geh weg, laß mich allein, flehte er stumm. Niemand kann mir jetzt beistehen. Bis herher bin ich auf meinen eigenen Füßen gegangen. Es gibt keinen Weg zurück. Sie sind zu stark für uns, und ich kann nicht mehr nachdenken. Mein Kopf schmerzt, und in meinen Ohren dröhnt es.
Madrone wartete. Bird sah sie nicht, er würde sich nicht umdrehen, und vielleicht war das gut so. Denn sie konnte ihm nicht helfen. Doch tief im Inneren glaubte sie doch, daß sie ihn schützen konnte. Vielleicht war dies nur eine Illusion, wie so vieles andere auch. Trotz all ihrer Kraft und Geschicklichkeit, konnte sie nur warten und aufpassen. Aber nichts bewahrte sie vor dem Schmerz, bei den Gedanken an ihre eigene Vergangenheit. Sie sammelte ihre Kräfte, atmete tief ein und begann sich zu öffnen.
Stückchenweise drang sie in die Tiefen ihrer Seele vor. Legte ab, was sie sich jemals zurechtgelegt hatte über ihre eigene Persönlichkeit. All die Konstruktionen, wer sie war und wer nicht. Sie fühlte, wie sie Mayas Hand hielt. Nicht die alte Hand von heute, sondern eine harte Jungmädchenhand mit abgebissenen Fingernägeln. Ihre andere Hand hielt Johannas Finger, die ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten, und dann versank sie in einem Wirrwarr aus schmerzlichen Gefühlen und Erinnerungen, Haß und Angst stiegen in ihr auf, das Gefühl der ruhelosen Leere ihrer Jugend bemächtigte sich wieder ihrer. Sie schluckte und schluckte alles hinunter, bis ihr der Magen weh tat, sie schrie wieder vor Wut. Alles war spürbar, tausend Jahre Sklaverei, die seelischen Martern als Farbige und der Schatten der Atombombe. Konnte sie das alles heilen, so wie sie Krankheiten heilen konnte? Konnte sie den Schmerz heilen und die Lust, Schmerzen auszuteilen und die tiefen Verletzungen, die dahinter steckten?
Die Geister der Toten schwärmten aus, schwirrten über die Plaza wie Bienen, Millionen von ihnen, Legionen von Opfern, Legionen von Tätern. Sie fühlte sich wie ein elektrischer Draht zwischen zwei Geisterhänden, hell und dunkel zugleich. Sie konnte das alles nicht länger aushalten, konnte dieses Schwanken zwischen Liebe und Haß nicht ausgleichen, vermochte ihre eigene Vergangenheit nicht zu überwinden. Sie waren auf immer verloren, Bird, sie selbst und die anderen auch. Sie starrte auf ihn, er war so nahe und doch so unendlich fern. Bird, der die Kraft hatte, sie mit einem einzigen Blick, mit einer einzigen Berührung glücklich zu machen. Wie haben wir das nur gemacht, uns so viel Glück geschenkt, und uns gleichzeitig so viel Schmerz zugefügt? Es gab immer die Wahl zu verletzen oder zu heilen. Doch jetzt wußte sie nicht mehr, was Heilen eigentlich war. Sie fühlte Regentropfen auf ihrem Gesicht und Wind auf der nackten Haut, und sie hörte ein Lied, das nicht an ihre Ohren reichte, sondern direkt in ihre Haut einzudringen schien, als wäre sie ein Musikinstrument, das von geübter Hand gespielt wurde, wie ein Löffel, der im Kessel des Lebens rührte, wie ein Messer, das den Stoff der Welt durchtrennte, im Diesseits wie im Jenseits. Sie schloß die Augen und begann Honig abzusondern.
Bird spürte die Bewegung um sich. Wie von fern hörte er die Stimme des Generals: „Ich zähle jetzt bis zehn, Boy! Zehn...“
Er konnte nicht denken, und sein Körper schien seinen eigenen Willen zu haben. Seine Arme waren wie ein Echo auf die Kommandos aus der Ferne.
„Neun...“
Bird hob das Gewehr. Es lag schwer in seinen Händen, schwerer als ein schlafendes Kind. Er versuchte, um sich zu blicken.
„Acht...“
Alles verschwamm um ihn herum. Ihm war übel.
„Sieben...“
Ruhig! Das Gewehr ruhig halten. Mayas Gesicht war ein verschwommener, heller Fleck, sichtbar durch das Kreuz in dem Kreis, die Mandala, die vier heiligen Himmelsrichtungen, Symbol der Vier Heiligen Dinge.
„Sechs...“
Luft, ich kann nicht atmen. Das
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