Das Fünfte Geheimnis
Elemente, der Ahnen, der Göttinnen und Götter, der verschiedenen anwesenden Menschen. Madrone liebte die Tänzer, besonders die Gruppen von Tiwok und Ohlone mit ihren Federcapes. Doch während eines längeren Gedichtes zu Ehren des gemeinsamen Gedankens, langsam und monoton vorgetragen von einer ernsthaften jungen Frau aus der Lehrer-Gilde, nickte sie ein, und ihr Kopf fiel vornüber.
»Eigentlich dürfen sie nur fünf Minuten sprechen«, flüsterte Maya Sam zu.
»Wenn die sich nicht beeilen, schlafe ich auch ein.«
Endlich endete der letzte Sprecher und nickte Maya zu.
Maya trat nach vorne. Ein junges Mädchen, sich ganz der Verantwortung ihres Amtes bewußt, reichte ihr den Sprecherstab, einen kunstvoll geschnitzten Eichenstock der mit Perlen und Federn besetzt war, in dessen Spitze ein Mikrofon eingelassen war. Die Lautsprecher waren in den Ästen der vier heiligen Bäume angebracht, diese standen an den vier Ecken des Theaters.
Während sie wartete, wanderten ihre Augen über die bunten Festtagsgewänder, über die Gesichter in allen Hautfarben, die weit geöffneten Augen und die stolz erhobenen Köpfe.
So ist es gut, dachte Maya. Das ist es, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe und auch du Johanna und auch du Rio. Aber wieviele müssen wir noch verlieren, wie Sandy, wie Consuelo? Wie Brigid und Marley und Jamie und vielleicht auch Bird? Was ist all dies wert, wenn wir es nicht bewahren können, es nicht schützen können?
Die Trommeln begannen einen Trancerhythmus zu schlagen, gleichmäßig und allmählich intensiver werdend, um die Gedanken zu lenken und dann in unerwartete Richtungen zu leiten. Maya sprach die Zauberformel mit rhythmischer, musikalischer Stimme, dabei sanft singend. »Este es el tiempo de la Segadora, dies ist die Zeit der Schnitterin. Sie ist das Ende allen Anfangs, die Sense, die das Korn schneidet. Die weise Alte, die Göttin der Ernte. In dieser ihrer Jahreszeit feiern wir das alte Fest des keltischen Sonnengottes Lugh, seinen Untergang, seinen Übergang in den Herbst. Es ist die Zeit des süßen Mais, der reifenden Tomaten, der an den Stangen harrenden Bohnen. Die Ernte beginnt. Wir schneiden, was wir gesät haben.«
Madrone saß aufrecht und lauschte aufmerksam. Sie genoß es jedes Mal, wenn Maya zu einer großen Menschenmenge sprach.
»Die große Alte, die Schnitterin, ist keine leicht zufriedenzustellende Göttin. Sie ist nicht die nährende Mutter. Sie ist auch nicht die Jungfrau, frei und unbeschwert, auch nicht schön, auch nicht leuchtend wie die volle Mondin oder die Sichelmondin. Sie ist die schwarze Mondin, die ihr nicht sehen könnt, der ihr euch aber nicht entziehen könnt; der Funke, den der Wind über die Feuerlinie treibt. Zufall, könntet ihr sagen, oder was noch unheimlicher ist: das Zusammentreffen von Zufällen und bereits lange feststehenden Entschlüssen und getanen Taten. Unterholz, das knochentrocken ist nach jahrzehntelanger Dürre, die Erwärmung des Erdklimas, das dafür verantwortlich ist, daß die Stürme nordwärts ziehen, das Loch in der Ozonschicht, das alles ist keine Bestrafung der Menschen durch die Götter. Auch nicht ausgleichende Gerechtigkeit. Aber auf jeden Fall sind die schrecklichen Folge davon Konsequenz unserer eigenen bösen Taten.«
Tiefes Schweigen breitete sich in der Menge aus. Maya fuhr fort. »Diese Mondin bringt eine Zeit der Hoffnung und der Gefahr: die Feuerzeit. Ängstlich beobachten wir die trockenen Hügel, wohl wissend, daß der Regen noch Wochen und Monate auf sich warten lassen kann. Diejenigen unter uns, die alt sind, haben schon riesige Feuer erlebt, die unsere ausgedörrten Städte vernichtet haben. Haben erlebt, wie der Rauch die Sonne verdunkelt hat. Wir haben erlebt, wie reicher Mutterboden zu steinharter Wüste wurde, und wie die Erde selbst über dem abgesunkenen Grundwasserspiegel zusammenbrach. Wir haben erfahren, wie Seuchen unsere Kinder, Liebhaber und Nachbarn gefordert haben. Wir wissen, daß all dies erneut geschehen kann.«
Sie machte eine Pause.
»Wir hoffen auf eine Ernte, wir beten um Regen, aber nichts ist sicher. Wir sagen, daß die Ernte nur dann gut ausfallen wird, wenn wir die Erträge teilen; daß Regen nur dann kommen wird, wenn wir das Wasser bewahren, miteinander teilen und darauf achtgeben. Wir glauben, daß wir nur weiterleben können, wenn wir einander achten. Uns als Menschen und Lebewesen achten. Dies ist das Zeitalter der Großen Schnitterin, wir haben ein 5000 Jahre altes Erbe
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