Das fünfte Zeichen
von da an ungeachtet ihrer Fesseln durch die Wand und begann zu spuken. Unter den alten Leuten in Grünerløkka erinnerten sich viele aus ihrer Kindheit an die Geschichte von der Frau mit dem Schweinskopf. Sie geisterte mit einem Messer in der Hand herum und schnitt Kindern den Kopf ab, die noch zu später Stunde draußen waren. Denn ohne den Geschmack des Blutes in ihrem Mund wäre sie vollends dahingeschwunden. Die wenigsten allerdings kannten den Namen von Maurer Andersen, der unbekümmert damit fortgefahren war, seine Spezialm i schung anzurühren. Als er drei Jahre nach dem Bau des Hauses, in dessen Mauerwerk nun das Wasser eindrang, von einem Gerüst fiel, hinterließ er zweihundert Kronen und eine Gitarre. Es sollte fast weitere hundert Jahre dauern, bis Maurer bega n nen, künstliche, haarähnliche Fasern in ihren Zementmischun gen zu verwenden, und man in einem mailändischen Labora torium herausfand, dass die Mauern von Jericho mit Blut und Kamelhaar verstärkt worden waren.
Das meiste Wasser versickerte nicht in der Wand, sondern rann nach unten. Denn Wasser, Feigheit und Gier suchen immer den geringsten Widerstand. Erste Tropfen wurden von dem klumpigen, pulverigen Lehm zwischen den Balkenlagen des obersten Stockwerks aufgesogen, doch es kamen immer mehr nach, und der Lehm war bald gesättigt. Das Wasser drang durch und weichte eine Zeitung vom 11. Juli 1898 auf, in der verkü n det wurde, dass die Baukonjunktur in Kristiania wohl ihren Gipfel erreicht hatte und dass den skrupellosen Gebäudespeku lanten hoffentlich schwierigere Zeiten bevorstünden. Auf Seite drei hieß es zudem, dass die Polizei noch immer keine Spur in dem Mordfall der jungen Näherin hatte, die eine Woche zuvor erstochen in ihrem Badezimmer aufgefunden worden war. Im Mai war ein Mädchen, das in gleicher Weise geschändet und dann ermordet worden war, am Fluss Akerselva gefunden worden, doch die Polizei wollte sich nicht dazu äußern, ob es zwischen den beiden Fällen eine Verbindung gab.
Das Wasser troff von der Zeitung durch die Balken darunter auf die Rückseite der mit Ölfarbe angestrichenen Deckenve r kleidung. Da diese im Zuge des Wasserschadens 1968 durchlässig geworden war, sickerte das Wasser hindurch und bildete Tropfen, die hängen blieben, bis sie so schwer waren, dass ihr Gewicht die Oberflächenspannung überwand und sie drei Meter und acht Zentimeter in die Tiefe stürzten. Dort landete schließlich das Wasser. Im Wasser.
V ibeke Knutsen zog gierig an der Zigarette und blies den Rauch durch das offene Fenster in der vierten Etage. Es war Nachmi t tag, warme Luft stieg von dem sonnengedörrten Asphalt des Hinterhofs auf und nahm den Rauch ein Stück weit mit in die Höhe, bis er sich vor der hellblauen Fassade auflöste. Von der anderen Seite des Daches drangen die Geräusche vereinzelter Autos auf dem sonst so befahrenen Ull evålsvei herüber. Doch jetzt waren Ferien, und die Stad t w ar beinahe menschenleer. Eine Fliege lag auf der Fensterbank, alle sechs Beine von sich gestreckt. Sie war nicht klug genug gewesen, die Hitze zu meiden. Auf der Seite der Wohnung, die auf den Ullevålsvei hinausging, war es kühler, doch dort gefiel Vibeke die Aussicht auf den Vår Frelsers Friedhof nicht. Lauter berühmte Menschen. Tote berühmte Menschen. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich ein Geschäft, in dem » Monumente « verkauft wurden, wie es auf dem Schild hieß, also Grabsteine. Marktnähe nennt man das wohl.
Vibeke legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe.
Sie hatte sich gefreut, als es endlich warm geworden war, aber aus der Wärme war rasch Hitze geworden. Bereits jetzt sehnte sie sich nach kühleren Nächten und Menschen auf den Straßen. Heute waren nur acht Kunden in der Galerie gewesen, fünf vor der Mittagspause und drei danach. Aus reiner Langeweile hatte sie anderthalb Schachteln Zigaretten geraucht. Ihr Herz raste, und ihr Hals brannte derart, dass sie, als ihr Chef anrief und wissen wollte, wie das Geschäft lief, nur schwer sprechen konnte. Doch als sie zu Hause ankam und die Kartoffeln aufsetzte, meldete sich das Verlangen schon wieder.
Vibeke hatte zwei Jahre zuvor mit dem Rauchen aufgehört, als sie Anders begegnet war. Er hatte sie nicht darum gebeten. Ganz im Gegenteil. Bei ihrer ersten Begegnung auf Gran Canaria hatte er sogar eine Zigarette von ihr geschnorrt. Einfach so zum Spaß. Und als sie einen Monat später in Oslo zusammengezogen waren, hatte er als Erstes gesagt, dass ihre
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