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Das fünfte Zeichen

Titel: Das fünfte Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hatte einen neuen Rückfall erlitten. Da hatte Møller ihn in die Urlaubsliste eingetragen, um sein Fehlen zu kaschieren. Wieder einmal. In der Regel gab Harry nach etwa einer Woche ein Lebenszeichen von sich. Jetzt waren vier vergangen. Der Urlaub war vorbei.
    Møller starrte auf den Telefonhörer, stand auf und trat ans Fenster. Es war halb sechs, und dennoch war der Park vor dem Präsidium beinahe menschenleer, nur einige wenige Sonnena n beter trotzten der Hitze. Am Grønlandsleiret saßen die Händler allein mit ihrem Gemüse unter den Markisen ihrer Stände. Sogar die Autos fuhren langsam, und das ohne Stau. Møller strich sich die Haare über den Schädel zurück, eine langjährige Ang e wohnheit, die er aber nach Meinung seiner Frau endlich ablegen sollte, da die Leute sonst meinen könnten, er wolle seine Glatze verbergen.
    Harry. Blieb ihm wirklich keine andere Wahl? Møller folgte mit dem Blick einem torkelnden Mann auf dem Grønlandsleiret. Wahrscheinlich würde der Mann es im Café Ravnen versuchen, dort nicht eingelassen werden und schließlich im Boxer landen. Dem Ort, an dem der Fall » Ellen « endgültig begraben worden war. Und vielleicht auch Harry Holes Laufbahn als Polizist. Møller stand unter Druck, er würde bald entscheiden müssen, was er mit dem Problem » Harry « anstellen wollte. Langfristig. Jetzt ging es erst mal um den Fall.
    Møller hob den Hörer ab. War er tatsächlich im Begriff, Harry Hole und Tom Waaler auf den gleichen Fall anzusetzen? Ur laubszeit war einfach Scheiße. Der elektrische Impuls verließ das staatliche Telje-Torp-Aasen-Monument für Recht und Ord nung, und es klingelte an einem Ort, an dem das blanke Chaos herrschte. In einer Wohnung in der Sofies Gate.

 
    KAPITEL 3
Freitag. Überwachung
    S ie schrie noch einmal, und Harry Hole schlug die Auge n a uf.
    Die Sonne blinzelte durch die müde flatternden Gardinen, während das Quietschen der bremsenden Straßenbahn in der Pilestredet langsam erstarb. Harry versuchte sich zu orientieren. Er lag auf dem Boden seines Wohnzimmers. Angezogen? Ja, mehr schlecht als recht. Nur halb lebendig, aber am Leben.
    Schweiß klebte ihm wie klamme Schminke auf dem Gesicht, und sein Herz hüpfte leicht und hektisch wie ein Tischtennisball auf Zementboden. Schlimmer ging es seinem Kopf.
    Harry zögerte einen Augenblick, ehe er sich entschloss weite r zuatmen. Die Decke und die Wände drehten sich, doch es gab kein Bild, keine Deckenlampe, an der sich sein Blick hätte festhalten können. Am äußersten Rand seines Blickfeldes kurvten ein Ivar-Regal herum, die Lehne eines Stuhles und ein grünes Sofa von Elevator. Immerhin blieben ihm so die Träume erspart.
    Es war der gleiche, alte Albtraum gewesen. Wie festgenagelt, außerstande sich zu bewegen, hatte er versucht die Augen zu schließen, um ihren aufgerissenen, zu einem stummen Schrei verzerrten Mund nicht sehen zu müssen. Die großen, leer vor sich hin starrenden Augen, die stille Anklage darin. Als er klein war, hatte seine Schwester so geschrien, Søs. Jetzt war es Ellen Gjelten. Früher waren die Schreie stumm gewesen, jetzt schrillten sie wie das Kreischen stählerner Bremsen. Er wusste nicht, was schlimmer war.
    Harry lag vollkommen still da und starrte zwischen den Gard i nen hindurch in die flirrende Hitze, die über den Straßen des Stadtteils Bislett hing. Nur die Straßenbahn durchbrach die Stille des Sommers. Er blinzelte nicht. Er starrte, bis die Sonne ein gelbes, hüpfendes Herz war, das gegen eine dünne, milchig blaue Membran klopfte und Hitze pumpte. Als er klein war, hatte seine Mutter gesagt, Kinder, die direkt in die Sonne blickten, würden sich die Augen verbrennen und erblinden, sie müssten den Rest ihres Lebens, tagaus, tagein, mit dem grellen Sonnenlicht in den Augen herumlaufen. Das war es, was er versuchte. Mit dem Licht der Sonne ausbrennen, was in seinem Kopf war. Das Bild von Ellens eingeschlagenem Schädel im Schnee am Akerselva, der Schatten über ihr. Seit drei Jahren mühte er sich nun schon, diesen Schatten zu fangen. Doch das war ihm nicht gelungen. Gerade, als er dachte, er hätte ihn, war alles zum Teufel gegangen. Er hatte es nicht geschafft.
    Rakel …
    Harry hob vorsichtig den Kopf und blickte auf das schwarze, tote Auge des Anrufbeantworters. Es hatte in all den Wochen, seit er von dem Treffen mit Møller und dem Kriminaldirektor im Boxer zurückgekommen war, kein Lebenszeichen von sich gegeben. Vermutlich auch von der Sonne

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