Das fünfte Zeichen
Herrschaften. Es ist mir eine Freude, so viele junge Gesichter zu früher Stunde schon wach zu sehen. Einige von euch kenne ich bereits, andere sind mir bisher erspart geblieben. «
Harry lächelte. Er jedenfalls war Aune definitiv nicht erspart geblieben. Es lag schon viele Jahre zurück, dass sich Harry mit seinem Alkoholproblem erstmals an Aune gewandt hatte. Das war nicht Aunes Spezialgebiet, doch in der Folge hatte sich eine Beziehung zwischen ihnen entwickelt, die, wie Harry einräumen musste, einer Freundschaft bedrohlich nahe kam.
» Raus mit den Notizblöcken, ihr Faulpelze! «
Aune hängte seine Jacke über einen Stuhl.
» Ihr schaut drein wie auf einer Beerdigung. Das ist in gewisser Weise wohl auch der Fall, aber ich will noch einige von euch lächeln sehen, bevor ich wieder gehe. Das ist ein Befehl. Und jetzt passt auf, es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. «
Aune nahm einen Filzschreiber von der Ablage unter dem Flipchart und begann rasend schnell zu schreiben, während er weitersprach: » Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass es Serienmö r der gibt, seit mehr als ein Mensch auf Erden wandelt, der sich töten lässt. Doch viele nennen den so genannten Autumn of Terror im Jahre 1888 als ersten Serienmord der Moderne. Erstmals konnte man nachweisen, dass ein Serienmörder rein sexuelle Beweggründe hatte. Der Mörder tötete fünf Frauen, ehe er spurlos verschwand. Man gab ihm den Namen J ack the Ripper, aber seine wirkliche Identität hat er mit ins Grab genommen. Der berühmteste Beitrag unseres eigenen Landes zu dieser Liste ist nicht etwa Arnfinn Nesset, der bekanntlich in den Achtzigern an die zwanzig Patienten vergiftet hat, sondern Belle Gunness, eine der seltenen Serienmörderinnen. Sie wanderte nach Amerika aus, wo sie 1902 einen Hänfling von Mann heira tete und sich auf einem Hof in der Nähe der Stadt La Porte im Bundesstaat Indiana niederließ. Ich sage Hänfling von Mann, weil er siebzig Kilo wog, sie hingegen einhundertundzwanzig. «
Aune zog leicht an seinen Hosenträgern.
» Was ich, wenn ihr mich fragt, für ein angemessenes Gewicht halte. «
Lachen allenthalben.
» Diese runde, lebhafte Dame tötete ihren Mann, einige Kinder und eine unbekannte Anzahl Kavaliere, die sie mit Hilfe von Kontaktanzeigen in Chicagoer Zeitungen auf ihren Hof lockte. Die Leichen aller kamen zum Vorschein, als der Hof 1908 unter geheimnisvollen Umständen abbrannte. Darunter ein verkohlter, ungewöhnlich umfangreicher weiblicher Torso, dem der Kopf fehlte. Die Frau war vermutlic h v on Belle dorthin gelegt wor den, um die Ermittler glauben zu lassen, es handele sich um sie selbst. Bei der Polizei gingen später verschiedene Zeugenauss a gen aus ganz Amerika ein, die Belle gesehen haben wollten. Sie wurde jedoch nie gefunden. Und das ist genau der Punkt, liebe Freunde. Leider sind die Beispiele Jack und Belle ziemlich typisch für Serienmörder. «
Aune war fertig mit Schreiben und klopfte mit dem Filzschre i ber gegen das Flipchart, tapp, tapp.
» Sie werden nicht gefasst. «
Die Versammlung starrte ihn wortlos an.
» Also «, fuhr Aune fort. » Der Begriff Serienmörder ist ebenso umstritten wie alles andere, was ich euch sagen werde. Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die noch in den Kindersch u hen steckt, und alle Psychologen sind von Natur aus Querulan ten. Ich kann nur erzählen, was wir über Serienmörder wissen –was gleichbedeutend damit ist, dass wir eigentlich nichts sicher wissen. Denn vielen tüchtigen Psychologen zufolge sind diese Merkmale charakteristisch für eine ganze Gruppe von Geiste s krankheiten. Andere sind der Meinung, dass es sie gar nicht gibt. War das klar genug? Na ja, einige von euch lächeln wenigstens. Gut so. «
Aune klopfte mit dem Zeigefinger auf den ersten Punkt, den er auf dem Blatt notiert hatte.
» Der typische Serienmörder ist ein weißer Mann zwischen vierundzwanzig und vierzig Jahren. Meist tritt er allein auf, aber er kann auch mit anderen kooperieren. Es gibt auch Paare. Die Verstümmelung der Opfer ist ein Zeichen dafür, dass er allein handelt. Die Opfer gehören in der Regel der gleichen ethnischen Gruppe an wie er selbst, und nur ausnahmsweise kennt er sie.
Das erste Opfer findet er in der Regel in einem Umfeld, das er gut kennt. Es ist eine populäre Vorstellung, dass mit einem Se rienmord immer spezielle Rituale verknüpft sind. Das ist nicht der Fall. Aber wenn es Rituale gibt, finden sich diese oft im Zu sammenhang mit
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